Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
eingesperrt, das Geräusch strömenden und schwappenden Wassers, das Kindergeschrei vom Becken her, die beiläufigen Gespräche zwischen den Schränken und das Murmeln hinter den heißen Wänden der Sauna. War es auch in Deutschland so, daß sie so unbefangen nackt ihre Wege in der Kabine machten, ob Schulmädchen, Matronen oder Greisinnen, einander musterten in der Muße unter den prasselnden Duschen, mit gelegentlichem Lob für einen Busen oder Beileid wegen einer noch rötlichen Operationswunde? es ist vergessen. Vergessen. Wie war es damals?
– Was du nicht weißt, wirst du auslassen, und ich bin kein Stück klüger: sagt Marie milde. Sie hockt auf der Steinbank unter der Uhr, die Knie unters Kinn gezogen, in angenehmer Mattigkeit versonnen. Sie ist schon eine halbe Stunde im Wasser gewesen. Dennoch gleitet sie immer wieder aus ihrer Kauerhaltung hinein in Anlauf und Eidechsensprung vom Rand des Bassins, sobald eine Bahn vor ihr auf acht Meter frei ist, dreht sich im Auftauchen um und hält den Sprungraum für die Mutter frei. Sie zieht gleich zur Bank zurück, und jedes Mal geht das Gespräch weiter wie nicht unterbrochen. Die Bank ist sicher aus der Hörweite der anderen Schwimmer, und Marie bequemt sich zu Deutsch. - Was dir fehlt beim Erzählen, füllst du auf mit anderem, und ich glaube es doch: sagt sie.
– Nie habe ich die Wahrheit versprochen.
– Gewiß nicht. Nur deine Wahrheit.
– Wie ich sie mir denke.
– Gesine, es gibt doch Dinge, die weißt du.
– Friedrich Jansens Spreizbeinmeter. Aber ich weiß nicht, warum meine Erinnerung es aufgehoben hat. Warum nicht einen anderen Anblick, einen mehr vernünftigen Wortwechsel?
– Die Katze Erinnerung, wie du sagst.
– Ja. Unabhängig, unbestechlich, ungehorsam. Und doch ein wohltuender Geselle, wenn sie sich zeigt, selbst wenn sie sich unerreichbar hält.
– Im September 1938 warst du … fünfeinhalb.
– Und als ich achtzehn war, vergaß ich was ich nie aufgeben wollte, und behielt was ich nicht brauche. Cresspahls Räuspern, und nicht was er erzählte.
– Was Cresspahl 1951 tat, muß es nicht passen zu Cresspahl im Jahr 1938?
– Ungefähr, Marie.
– Wer entscheidet das besser als du?
– Komm ins Wasser.
– Mich stört es nicht, daß du nur sicher bist, wie Friedrich Jansen im gneezer Stadtwald stand, und daß der Rest der Geschichte später anwuchs. Ich möchte nur wissen, wie du es anstellst.
– Obwohl Jansens Geschichte nur möglich ist?
– Es ist die Möglichkeit, auf die niemand kommen kann als du. Was du dir denkst an deiner Vergangenheit, wirklich ist es doch auch.
– Du bist der Auftraggeber, Marie.
– Right. Wie machst du das.
– Regentonne -
– Mordversuch.
– Der Hund Rex, und was Cresspahl nach dem Krieg von Dr. Semig erwähnte -
– Die Auswanderung der Semigs.
– Bücher, weißt du.
– Alte Filme. Die Ausstellung im Jewish Museum.
– Briefe von Kliefoth.
– Ja. Aber stiehlst du auch aus diesem Jahr?
– Nein.
– Der Regen im Januar 1968, du hast ihn nicht benutzt. Die vielen Brände in Harlem -
– Marie, wenn ich ein brennendes Haus für 1938 brauche, ich brauch dafür nicht in New York zu borgen.
– Aber das Flugzeug mit der Wasserstoffbombe, das die Air Force vor elf Tagen bei Grönland verlor? Am gleichen Tag hast du von den Flugzeugabstürzen bei Podejuch erzählt, von ungeheuren Kratern.
– Die Geschichte war in der Familie, Marie. Die hat sich festgesetzt wegen der Raketenerprobungen in Peenemünde, später.
– Aber wie Cresspahls Kind um den Küchentisch hangelte mit hoch erhobenen Händen, bis es gehen konnte, das hast du von anderen Kindern als dir.
– Von einem Kind, mit dem ich persönlich bekannt bin.
– Und was noch an Heutigem?
– Was ich damals nicht habe sehen können. Was ich nicht gelernt habe und nachholen muß. Nimm die heutigen Bilder aus Saigon in der New York Times -
– Jetzt fängst du wieder damit an!
– Nein, ich will dir nicht lästig fallen mit dem Krieg. Es wäre eine Antwort.
– Welche Bilder? Von dem Offizier, der sein erschossenes Kind aus dem Haus trägt?
– Nein. Die Serie.
– Die Erschießung.
– (Die Ermordung. Ich will gar keinen Streit.) Ich meine jenen Vorgang in drei Phasen. Auf dem ersten Bild wird ein junger Mann von einem Marineinfanteristen abgeführt. Seine Hände sind auf dem Rücken, vielleicht gebunden. Er sieht nach Freizeit aus, wegen seines karierten Hemdes, und weil er es über der Hose trägt. Sein Mund ist
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