Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl
im Feuer, im Rauch (die Feuerwehrschläuche waren abgeschnitten), an den Bordwaffen der deutschen Besatzung (die Besatzung hatte Schwimmwesten), eingeklemmt von gehorteten Lebensmitteln, eingequetscht im panischen Gedränge, an der Hitze der ausglühenden Cap Arcona, in den abstürzenden Rettungsbooten, am Sprung ins Wasser, im Wasser an der Kälte, an den Schlägen und Schüssen von den deutschen Minensuchbooten und an Land an der Erschöpfung. Gerettet wurden 3100 Menschen. Umgekommen war eine Zahl Menschen zwischen sieben- und achttausend. Gegen siebzehn Uhr übernahmen die Engländer Neustadt, britische Zone wie Jerichow, zwischen den beiden Städten durfte noch gesprochen werden, daher wußten wir es.
Die Toten trieben an alle Ufer der Lübecker Bucht, von Bliestorf bis Pelzerhaken, von Neustadt bis Timmendorfer Strand, in die Mündung der Trave hinein, vom Priwall bis Schwansee und Redewisch und Rande, noch in die Wohlenberger Wiek hinein, bis an die Insel Poel, das andere Timmendorf. Sie ließen sich finden fast jeden Tag.
An der Küste vor Jerichow kamen zu viele an, die konnte der Finder nicht alle heimlich verscharren im Strandsand. Die britische Besatzungsbehörde hatte eine Meldepflicht eingeführt für die Leichen aus dem Wasser und bestand darauf. Die Briten holten Männer zusammen auf einen Lastwagen, weil sie Mitglieder der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei gewesen waren. Sie wurden am Strand entlang gefahren, und wo ein schwarzer Klumpen im weißen Sand lag, hielten die Briten an. Die Deutschen bekamen für das Aufladen keine Handschuhe, nicht einmal Gabeln oder Spaten. Die Briten tranken ihren Whisky den Deutschen vor; trotz der Medizin mußten auch sie sich übergeben. Die Briten legten nicht einen eigenen Friedhof an für die Toten aus dem Wasserlager. Wenn der Wagen voll war, fuhren sie die Ladung tief ins Land hinein, bis nach Kalkhorst, nach Gneez sogar. Wenn sie in Jerichow einfuhren, wurden die Seitenklappen heruntergetan. Die Militärpolizei holte die Deutschen aus den Häusern, damit sie die Fracht ansahen, die im Schritt durch die Stadtstraße zum Friedhof gefahren wurde. Langsamer als Schritte. Die Fracht war nicht leicht zu erkennen. Sie war beschädigt von Schußwunden, Brandschrumpfung, Bombensplittern, Schlägen. Sie war zu erkennen an der verfärbten, aufgeplatzten, eingeschlungenen Kleidung aus Streifentuch. Oft waren die einzelnen Stücke Mensch nicht vollständig. Es fehlten Glieder, oder auf der Ladefläche lagen Glieder ohne Rumpf, eines Tages nichts als ein Stück Kopf. An dem hatten die Fische viel gefressen. Die Briten holten die Leute von Jerichow auf dem Marktplatz zusammen. In der Mitte lag die erste Fuhre Tote. Der Kommandant übergab den Deutschen ihre Toten. Er machte sie zu ihrem Eigentum. Er erlaubte ihnen, die sterblichen Überreste aus dem Meer in Särge zu legen. Sie durften dann die Särge schließen und auf den Friedhof tragen. Als das Massengrab zugeschippt war, schossen die Briten eine Ehrensalve in die Luft. Am Ausgang des Friedhofes stand ein Sergeant mit einem Kasten vor dem Bauch, darauf stempelte er die Lebensmittelkarten ab. Wer die Toten nicht angenommen hatte, sollte nicht essen.
– Es waren die eigenen Toten dieser durch und durch verluderten Engländer! sagt Marie. – Ihr habt euch alles gefallen lassen, und noch mehr!
– Sie gehörten den Deutschen. Die hatten sie gefangen gehalten, auf Schiffe geladen; nur langsamer wären sie bei denen gestorben.
– Die Bomben kamen von den Briten. Sie haben die Lageruniform der Häftlinge gesehen und sie doch beschossen mit Bordwaffen. Das ist die Wahrheit.
– Die Briten wollten diese Wahrheit nicht. Du konntest für weniger eingesperrt werden. Rund um die Schiffe hatten deutsche Uboote aufgetaucht gelegen, die bekamen nichts ab; das war zum Flüstern zu gefährlich.
– Es war euch geläufig.
– Neu war es nicht. Eben noch konnte man in Mecklenburg solche Gefangene in gestreiften Anzügen sehen (womöglich nicht in Lübeck); in der Sprache durften sie nicht leben. Nun brachten die Briten Tote mit und verordneten die Ursache für ihr Sterben nach Belieben.
– Wenn die Leute in Mecklenburg nicht mutig waren, die Engländer doch.
– Bis 1956 haben sie fünf Bände über die Luftoffensive gegen Deutschland bis Kriegsende in die Welt gesetzt, der 3. Mai war vor dem Ende des Krieges, nirgends ist die Rede von dem Bombardement in der Lübecker Bucht.
– Amtliche Wissenschaft. Steife
Weitere Kostenlose Bücher