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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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hatte das Deutsche Reich es nicht geschafft. Als das Deutsche Reich die Lager Majdanek, Treblinka, Bełżec und Sobibór im vereinnahmten Polen räumen mußte, stellte es Häftlingskommandos zum Öffnen der Massengräber an, zum Ausgraben der Leichen, zum Vermahlen der Knochen. Das Mehl wurde auf den Ackern ausgestreut, die Gaskammern und Verbrennungsöfen gesprengt, und als die Häftlinge die Lager so eben gemacht hatten wie eine Unschuld, wurden sie umgebracht für ihre Arbeit. In Österreich mußten die Deutschen das Lager Mauthausen stehen lassen, auch in Neuengamme schafften sie es nicht. Die dänische Regierung verhandelte um ihre Landsleute, bis sie sie im April mit dem vielberedeten »Konvoi der 92 Weißen Busse« nach Frøslev und Møgelkaer holen konnte. In Neuengamme blieben mehr als sechstausend Menschen unter dem Kommando der Deutschen zurück, die sollten die Briten nicht finden, die wurden evakuiert. Auf dem Weg über Hamburg nach Lübeck starben erst einmal fünfhundert in den Güterwagen, die noch mehr Hunger nicht vertrugen und ärztlich nicht versorgt wurden. Vier Waggons mit Kranken wurden gar nicht erst auf die Schiffe verladen, die schrien im Fieber, die wurden erschossen, und wenn Einer das nicht gehört hat in Lübeck-Außenhafen, dann mag ihm doch der festliche Lärm der deutschen S. S. im Getreidesilo daneben zu Ohren gekommen sein, die den Endsieg mit feinsten Cognacmarken und Delikatessen aus gestohlenen Paketen des Roten Kreuzes begingen. Die Häftlinge, von denen die Lübecker nichts wußten, warteten fast zehn Tage an ihrem Kai, in den Waggons, Güterwagen der Deutschen Reichsbahn, unter offenem Himmel, in die Thielbek und in die Athen gestopft; neben dem Hafen wurden weiterhin Tote verscharrt. Die Thielbek hatte 1944 Bomben abbekommen, sie war lange nicht repariert und seetüchtig, sie mußte von zwei Motorkuttern die Trave hinaus in die Bucht geschleppt werden. Die Athen konnte aus eigener Kraft fahren, die brachte immer neue Häftlinge vom lübecker Industriehafen zur Cap Arcona in der neustädter Bucht. Die drei Schiffe mit den Häftlingen waren gut zu sehen vom Land aus, und nicht nur den Fischern bekannt. Die Thielbek hatte für Knöhr & Burchard in Hamburg Fracht gefahren, 2815 Bruttoregistertonnen, 105 Meter Länge, 6,4 Meter Tiefgang. Auch die Athen, etwas kleiner, war nicht für den Transport von Menschen eingerichtet, sondern für Fracht. Die Cap Arcona war für Personen gebaut, ein Luxus-Schnelldampfer der Hamburg-Südamerikanischen Dampfschiffahrtsgesellschaft, 27 560 Bruttoregistertonnen, 206 Meter Länge, 8,7 Meter Tiefgang. Vor dem Krieg fuhr sie nach Rio de Janeiro, 35 Tage, nur erste Klasse, für 1275 Reichsmark; meiden Sie einen Teil des Winters und erholen Sie sich in südlicher Sonne und milder Seeluft. Für 1325 Passagiere und 380 Mann war die Cap Arcona eingerichtet; jetzt hatte sie allein 4600 Häftlinge im Bauch, ganz unten die Kranken, ohne Medikamente und Verbandszeug, die russischen Häftlinge im Bananenbunker, ohne Licht, ohne Luft und die ersten drei Tage lang ohne Essen; die Toten wurden auf dem Deck gestapelt. Das Schiff stank nach den Toten, nach der Krankheit und dem Kot der Lebenden; ein Faultopf, unbeweglich obendrein. Denn auch die Cap Arcona war nicht seetüchtig, ihr fehlte der Brennstoff. Zu essen gab es kaum für die Häftlinge, sogar Trinkwasser wurde ihnen vorenthalten, aber Appell am Morgen mit Abzählen und Abhaken mußte sein. Das Sterben ging hier langsamer als im Gas, aber der Tag war vorauszusehen, an dem alle tot sein würden. Dann kam die Freiheit. Die Freiheit kam am 3. Mai über die sonnenklare Bucht und war eine Staffel britischer Bomber. Gegen halb drei kreuzten sie über dem Hafen von Neustadt ein und nahmen sich die Athen vor. Die Deutschen verteidigten ihre Häftlinge mit Flakfeuer, nach dem dritten Treffer hißten sie eine weiße Fahne. Die britischen Piloten mögen das gesehen haben, denn sie ließen von diesem Schiff ab und griffen die in der äußeren Bucht an. Die Thielbek legte sich nach zwanzig Minuten auf die Seite und verschwand ganz unter der Wasseroberfläche, denn da war es achtzehn Meter tief. Die Cap Arcona, mit dem Bettuch des Kapitäns am Mast, brauchte eine Stunde, dann neigte sie sich nach Backbord, langsam, immer schneller, bis sie mit ihren sechsundzwanzig Metern Breite auf der Seite lag, acht Meter davon über Wasser. Inzwischen war das Sterben rasch gegangen, auch vielfältig. Sterben konnten die Häftlinge

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