Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
Vom Netzwerk:
Oberlippe.
    – Amtliche Wissenschaft ist auch, daß die Briten ankamen, bevor die deutschen Uboote die Häftlinge noch selber hätten versenken können. Amtliche Wissenschaft ist das Denkmal auf dem Alten Friedhof von Jerichow.
    – Auch eins in der Britischen Zone?
    – In Pelzerhaken bei Neustadt. Und vier Jahre später erlaubten die Briten den Besitzern der Thielbek die Bergung des Wertgegenstandes. Die See hatte das Schiff nicht ganz leerspülen können, da waren Leichen übrig, Mengen blanker Knochen; reparieren ließ sich das. Nennen wir das Ding Reinbek, lassen es laufen bis 1961, bis der Verkauf sich lohnt. Wenn du heute eine Magdalena siehst unter der Flagge Panamas, das ist die Thielbek vom Mai 1945. Die Cap Arcona lohnte nur noch das Verschrotten. Aber die Athen wurde 1946 die sowjetische General Brussilow, 1947 die polnische Warýnski, die fuhr dann für die Reederei Polish Linie von Gdynia nach Buenos Aires und Rio de Janeiro. Von der Cap Arcona ist die Schiffsglocke übrig, du hast sie gesehen.
    – Im Freiheitsmuseum von Kopenhagen!
    – Am Churchillplatz, in Kopenhagen.
    – Und in der Ostsee mochtest du noch schwimmen?
    – Aus der Ostsee haben wir Fische gegessen. Bis heute essen die Deutschen Fische aus der Ostsee. Es liegen noch fast dreitausend Häftlinge auf dem Grund der See.
    – Und K. A. Pontij verbot sie?
    – Er verbot die Erziehung der Deutschen durch Leichentransporte über Land. Dies Strandgut mußte in den Friedhöfen der Stranddörfer versammelt werden, außerhalb seines Befehlsbereichs. Das kostete –
    – und Jerichow ließ er bezahlen.
    – Beschwer dich, Marie.
    – Nein. Ich wär ihm auch dankbar gewesen.

    Der Herr Stadtkommandant schaffte es nicht mit einem ersten Befehl, tote Leute von sich fernzuhalten. Eine Weile noch überfielen sie ihn von einer anderen Seite. Sie waren die Flüchtlinge, die auf den Dörfern und Gütern um die Stadt starben, von weit außerhalb des Kirchspiels kamen sie her, schon Anfang Juli. Sie hatten keinen Sarg mitgenommen, als sie vor dem Krieg wegliefen; nun sie am Typhus verkamen, sollten sie ein Heimatrecht in Jerichow suchen. Der erste Wagen war noch angemeldet bei Pastor Brüshaver, so daß die kleine Glocke geläutet wurde, als er näher kam. Gesine ging deswegen nicht mehr hinters Haus; zwar blieb sie sitzen in ihrem Walnußbaum, obwohl es doch unhöflich war gegen die Toten. Es war ein Kastenwagen, mit Seitenbrettern und Kretts hinten und vorn. Die Sprache lief ihr weg, sie dachte: Kraut und Rüben. Vor der Leichenkapelle nahmen der Kutscher und der Helfer das hintere Krett hoch und zogen den obersten Toten nach unten, bis er auf die Trage stolperte. Gesine versuchte zu denken, daß Jakob so ein Krett ein Schott nannte in der sonderbaren pommerschen Art, sie fühlte sich doch weglaufen. Beim zweiten Male wurde den Dorfleuten das Ausschachten so großer Löcher zu beschwerlich, und sie luden die Fremden in Jerichows Leichenhaus ab, ohne daß Brüshaver es rechtzeitig erfuhr. Das war ein Erntewagen gewesen, darauf lagen sie sichtbarlich übereinander zwischen den Leitern, auf denen am nächsten Tag wieder Korn eingefahren werden sollte. So ein Menschenarm, der zwischen den Stäben über den Holm hinaushängt, neben dem Rad schaukelnd, nahm sich noch lebendig aus. Den Toten war nicht anzusehen, wohin sie gehörten; K. A. Pontij konnte sie nicht zurückschicken. Er richtete für den nächsten Tag ein Wachkommando ein.
    In der Nacht wurde noch ein Wagen heimlich an seiner Villa vorbeigeschoben, leise von Hand, auf Gummirädern. Den hörten Hanna Ohlerich und Gesine nicht; beruhigt wachten sie einmal auf von einem Wagen der Kommandantur, der nach heftigem Rasseln mit einem Ruck zurückgerissen wurde, so daß die Pferde schrien. Gesine mußte auswärtigen Besuch nicht fürchten; ohne Bedenken ging sie morgens aus dem Haus. Bei dem Blick nach rechts sah sie beide Flügel der Kapelle offenstehen, am Boden davor etwas, das sah aus wie ein Schuh. Sie versuchte sich einzureden, daß dort jemand bloß gestürzt sei; sie wußte aber, daß sie die Toten jetzt ansehen wollte.
    Vielleicht hatten die Lebenden in der Nacht Laternen mitgebracht. Die Toten waren nicht übereinander geworfen wie auf den Wagen. Sie saßen in der kleinen Halle wie lebendig, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, die meisten mit offenen Augen. Die Kleider, die Hosen und Joppen hatte man ihnen gelassen, aus Furcht vor Ansteckung, oder wieder angezogen, es saß ihnen nur etwas

Weitere Kostenlose Bücher