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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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erfand auf der Stelle das Sprichwort von dem Ochsen, dem du, wenn er drischt, niemals sollst das Maul zubinden. – Ja, Ochsen: sagte Cresspahl. Pontij gab ihm recht mit nachdrücklichem Nicken.
    Auf dem Lande um Jerichow war inzwischen ein junger Mann unterwegs, Gerd Schumann nannte er sich, ehemals beim Nationalkomitee Freies Deutschland in der Sowjetunion, nach einem Lehrgang für Verwaltungstechnik in Stargard/Pommern abgesandt in diesen Winkel als Werber für die Kommunistische Partei. Cresspahl hatte mit ihm gesprochen, er fand ihn umgänglich, wenn auch ein wenig zu hochdeutsch für die Gegend. Ein Junge von 23 Jahren, stämmig und schon ein wenig speckig, angreiferisch dabei wieder zurückgenommen blickend, immer angetan mit einer sonderbar unbeschädigten Uniformjacke, auch die Schultern hielt er gerade auf eine militärische Art. »Rotkopf« genannt, sein Haar war aber zwischen weiß und grau, silbern glänzend. – Von jetzt ab
    wird über Europa
    die große Fahne
    der Freiheit
    der Völker
    und des Friedens
    der Völker
    wehen! konnte der ausrufen, unachtsam gegen seiner Zuhörer Abneigung gegen noch einmal Fahnen, er hob solche Ankündigung hervor in einem abgestuften Ton, der in einer Art Singsang stieg und fiel, und wiederum wie Pastor Brüshaver in der Kirche gab der Junge die Stelle im Buch an: Generalissimus Stalin, 9. Mai 1945. Die Redeweise war ihm natürlich angewachsen, er kletterte so durch das gesamte Zehnpunkteprogramm der K. P. D. vor den müden Tagelöhnern und Bauern, die die Dorfkommandanten ihm nach der Arbeit zuführten, und weil er solche Sachen verlangte wie den Kampf gegen Hunger, Arbeitslosigkeit und Mangel an Obdach, fiel am Ende mancher Groschen auf den Sammelteller, und er wurde seine Handzettel los, auch Anträge auf Beitritt. Er war Cresspahl an Macht bei weitem überlegen. Er trug eine Pistole recht zum Sehen am Gürtel, er konnte sich damit und mit der russischen Sprache wehren gegen verständnislose Rotarmisten, er hatte ein Wort in der Verteilung des Wohnraums, er hatte Geld, er konnte Bett-Tuch und rote Farbe verwenden zu Schriftbändern quer über die Dorfstraßen, er schlug schlicht auf den Tisch, wenn er von Flüchtlingen nach den ostpommerschen Gebieten gefragt wurde, und erläuterte friedlich die Schuld des gesamten deutschen Volkes am Krieg, mit singendem Absatz, ausschwingender Pause, angehobener Ebene der Melodie. Ende Juni hatte seine Partei in Mecklenburg-Vorpommern fast tausend Mitglieder, Ende Juli über dreitausend, Ende August fast achttausend. Cresspahl sah wohl, daß dem das freizügige Wandern von Ort zu Ort gefiel, der abendliche Auftritt wie die wechselnden Übernachtungen, er lud ihn doch ein nach Jerichow. Hatte der erst einmal Wohnung in der Stadt, einem so gewandten und unerschrockenen Menschen durfte man wohl die Leitung der Polizei anbieten. (Im geheimen wollte Cresspahl auf diesen Gegenkönig als einen Nachfolger in der Bürgermeisterei hoffen.) Der Junge wollte nicht einmal eine Versammlung abhalten in Jerichow. – Ihr Bier, Cresspahl: sagte er, unverhofft in berlinischem Ton, so spöttisch und belustigt in den Augenwinkeln, daß Cresspahl sich durchschaut vorkam.
    Der verlangte die Macht, und nahm sie nicht. Cresspahl blieb bei den Sorgen mit der Polizei: as dei Kuckuck bi sin Gesang.
    Gestern gegen Mittag kam der sowjetische General Alexej A. Yepishew in Prag an. Zu seiner Verblüffung wurde er gefragt, ob die Rote Armee tatsächlich bereitstehe, auf einen Hilferuf aus Prag dahin zu marschieren, und vielleicht weil eine junge Dame ihm das Mikrofon hinhielt, brünett in ultramarinblauer Bluse, sagte der kleine schwere Mann mit den vielen Medaillen ihr endlich mit einem Lächeln: Was für ein Quatsch. Was für ein Quatsch.
    19. Mai, 1968 Sonntag
    In der Spalte für kommerzielle Anzeigen, unter einer Annonce für den Versand von Autos, meldet sich heute die Amerikanische Gesellschaft für das Studium der Deutschen Demokratischen Republik und bietet uns für Freitag einen Vortrag an über die Abrüstung in Europa und die beiden deutschen Staaten. Wegen der Autos sollen wir 227-6334 anrufen, wegen des Studiums der D. D. R. MO nument 6-4073. Die Nummer könnte gleich um die Ecke wohnen.
    Wo wir wohnen ist der Park, genannt nach dem Fluß, Riverside.
    Sieben Jahre leben wir an dem breiten wiesigen Gelände aus sanften Abhängen, Spazierwegen, Stützmauern, Fahrbahneinschnitten, Tunneln zum Fluß, alten Bäumen, Weißdorngebüsch, Denkmälern und

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