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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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der Boden dicht bestreut mit Splittern von Glas, das da in säuberlicher, gleichmäßiger Wut zerschlagen wurde. Im Riverside Park sind die dunkelhäutigen Kinder an einem Wochentag in der Minderheit, sie spielen in Gruppen für sich, und die Negerin, die ein Rudel wild rennender Kinder im Auge behält, paßt nicht auf ihren eigenen Jungen auf, sondern auf den ihres rosahäutigen Arbeitgebers. Auf den Baseball-Plätzen sind die Puertorikaner für sich, auf den Basketfeldern üben die Neger für sich allein, und Fußball spielen die Westinder untereinander. Sie borgen die Landschaft, die ihnen zusteht.
    Wir können gehen auf der Promenade am Hudson, von den engen Pfaden neben der Autobahn über die prächtigen Ausläufe aus Pflastern und gepflegten Zäunen unter Laternen bis zu den ungeschützten Graswegen und zur 124. Straße, wo im Schatten einer Großzahnespe eine Plakette in Fels gesetzt ist, zum Andenken an das Wirken der Frauenliga für die Beschützung des Parks Riverside. Da sollten wir nicht Mitglieder sein. Wir haben den Fluß. Der Fluß unter dem unverstellten Himmel zieht auf das nahe Meer zu, bietet langsam reisende Schiffe, nachts Nebelhörner, grüne, graue, blaue Farben gemischt mit denen des Parks, eine Ansicht von Ferien, und so vergiftet ist der Fluß von der Industrie, Menschen dürften da nicht einmal baden. Der Fluß sammelt das Licht des Himmels und seinen Schmutz, der hilft die Sonnenuntergänge gefährlich kolorieren. Der Geruch des Flusses kommt mit an den Riverside Drive. Schon halten die Blätter des Parks Lampenlicht unter sich in strahlenden Höhlen. Im Bauch des Parks rumpeln die Güterzüge, sie bringen aus Iowa und Nebraska Fleisch für die Märkte New Yorks, aus Maine und Canada Wälder verwandelt in Papier für die New York Times von morgen, für das Tagebuch der Welt. Über den blinkenden Lichterterrassen New Jerseys, über dem Farbenknäuel des Rummelplatzes auf den Pallisaden, über dem grauen Fluß, einem weiten Tor zum Norden, sind an flachen Kabelbögen weiße Birnen aufgereiht, über das doppelstöckige Brett zwischen den beiden Pfeilern der Washington Bridge tappen Scheinwerfer und Katzenaugen, und die Reiseführer Europas empfehlen den Anblick. Mehr als den Anblick können wir nicht empfehlen.
    Hier leben wir.
    20. Mai, 1968 Montag
    Charles de Gaulle hat sein Wort zum französischen Generalstreik nun gefunden: Reformen, Ja; ins Bett machen, Nein. Chienlit. Der große alte Mann.
    An der Manhattan Avenue um die 119. Straße, in der Nähe des Parks Morningside, ist das folgende Verfahren festgestellt: Der Busfahrer sieht ein hübsches Mädchen an der Haltestelle, fährt rechts heran und öffnet die Tür. Es tritt jedoch nicht das Mädchen vor ihn, sondern drei oder vier Schuljungen, die sich gebückt an der Seite des Fahrzeugs vorangeschlichen haben. Sie halten dem Chauffeur ein Messer an die Kehle, schnappen sich den Geldwechsler und sind verschwunden. Das ganze Unternehmen dauert weniger als dreißig Sekunden. Die New York Times nennt den Tatort Obere Westseite, wo wir wohnen; es ist nur unsere Nachbarschaft.
    Schwankende Bewölkung, weiß aufplatzender Sonnenschein will noch einmal einen Schneeball, den ein Kind aufs Dach wirft, der eine dickliche Spur abrollt, in der Hand zerplatzt.
    Im Winter 1945 war für Cresspahls Tochter eine Sorge vergangen.
    Sie wünschte, die beiden Abs würden nicht weiterziehen. Jakob sollte bleiben; Jakobs Mutter sollte bleiben. Sie hat mir das Essen gekocht und hat mir gezeigt wie man es machen muß mit dem Haar, sie hat mir geholfen in der Fremde. Ich weiß den Abend, an dem ich die Hände auf dem Rücken behielt, – Gesine: sagte sie, berührte leicht und höflich meine Schulter mit ihrer rauhen harten Hand; ich weiß ihr halblautes schleuniges Reden. Ich weiß ihr Gesicht; das ist lang und knochig und in den schmalen trockenen Augen schon sehr entlegen zum Alter hin, ich habe eine Mutter gehabt alle Zeit. Alle Zeit.
    Frau Abs glaubte sich am falschen Ort in Jerichow, im falschen Haus obendrein.
    In der kleinen Stadt, versteckt an der See, versteckt im Weizen, konnte der Mann sie nicht finden. Er hatte nicht versprochen, den Jungen und sie zu finden. Als er aus dem Wehrmachtsgefängnis Anklam entlassen und an die ostpreußische Front in Marsch gesetzt war, hatte er einen heimlichen Umweg über die Dievenow gemacht, für zwei Stunden in der Nacht auf dem Boninschen Hof, für das mündliche Testament. Sie hatte es nicht geglaubt. Sie hatte

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