Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
jetzt das Postamt Friedenau umbauen und ihr euer Schließfach verliert, müßt ihr doch zumachen. In einem Postfach seid ihr schwer zu finden, aber in einer Vierzimmerwohnung mit Telefon sieht man euch schon am Licht. (Es tut mir leid, daß euch das Atelier genommen ist.)
In Friedenau haben bis 1943 Verwandte gewohnt, die Niebuhrs, auch tot. Von denen haben wir neulich ein Briefalbum mit Fotos gekriegt, die wollte Gesine dann alleine ansehen. Beim Zurückkommen war mir, als hätte sie geweint. Aber läßt sie sich etwas anmerken?
Von Friedenau träume ich am liebsten den Markt, weil man da Fische kaufen kann und Rhabarber und Butter lose statt bloß Pullover und Anzüge wie bei uns manchmal auf der Vierzehnten. Aber wieso fragt die Fischfrau noch nach mir?
Wenn du nach New York kommst, fahre ich mit dir zur Park Avenue, wo sie arm geworden ist (nach Harlem darf ich nur mit einem Erwachsenen), da zeige ich dir La Marqueta mit den karibischen Früchten, von habichuela blanca bis aji dulce. Diesen Markt haben die Puertorikaner sich mitgebracht, und ihre Gegend heißt Spanish Harlem.
Wenn du zur Hochzeit kommst, brauchen wir bloß schwimmen gehen im Hotel Marseille. Wohnen kannst du bei mir. Be my guest.
M.
P. S.
Aber wie ich heißen werde, siehst du an der oberen linken Ecke dieses Bogens und an den Buchstaben auf der Uhr von dir.«
22. Juli, 1968 Montag
Was ist es denn, das bedroht das gesittete Leben der Menschen auf der Erde? Es ist vor allem jene Bombe, die durch Kernreaktionen Wärme erzeugt: sagt einer ihrer Erfinder und möchte nunmehr, daß die Sowjetunion sich vertrage mit diesem Lande, auf diesem Felde wie auch in anderer Hygiene. So tätig, die wissenschaftliche Reue.
Ein anderer, ausgewiesen in Mathematik und Philosophie, hört sich ungeduldig an. Der sowjetische Ministerpräsident soll Lord Bertrand Russell und der Welt öffentlich versichern, daß die Rote Armee in der Č. S. S. R. Gewalttätigkeiten unterlassen wird. Damit man doch Bescheid hat wegen der Zukunft. Diese Ungewißheiten immer.
Tatsächlich sind die Sowjets seit drei Wochen fertig mit ihren Kriegsspielen in der Tschechoslowakei, und noch immer haben sie Truppen im Lande. Ihre Armeezeitung berichtet aus Moskau, was sie so tun da. Sie suchen nach Säcken mit amerikanischen Waffen, und schon wieder haben sie drei gefunden.
Der Witwer, der Hagestolz Cresspahl hatte vom späten Sommer 1948 an gleich drei Frauen um sich. Die eine, die weißt du, eine Fünfzehnjährige rätst du, die dritte wird dich verwundern. Die eine trug, leider und vorweg geleisteter Trauer wegen, jeweils ein Stück Schwarzes, sei es Kragen oder Kopftuch, die andere wurde immerhin hinter ihrem Rücken ein Weibsstück genannt, dazu kam wie ehedem zu Besuch die Brüshaversche, die Frau Pastor. Unentwegt beherzten Mundes, Gläser in einem ungefügen Gestell um den oberen Kopf, mit einem achtlosen Scheitel in den stumpf gewordenen aschblonden Haaren, so trat sie her; auf der Hut, sich umzusehen wie eine Fremde. Bloß der Fußweg von ehedem, zwischen Creutzens Gartenbauanstalt und der Herrschaftsvilla, der war als sowjetisches Sperrgebiet auch ihr verwehrt; so mußte sie öffentlich kommen, von der Stadtstraße den Ziegeleiweg entlang, einen Mantel über der Schürze, der guten Sitte zuliebe, und tat unbefangen gleich beim ersten Mal. Aber Cresspahl war es zufrieden, daß sie ihn mit seiner Tochter und Frau Abs in der Küche zugange sah, wie von einer Familie behütet, und gab sich abweisend mit der Frage, was denn zu Diensten sei.
Sie fing es an wie nur eine Frau das vermag, sie griff sich etwas aus der Luft, wahllos erwischte sie da den Einfall, Männer ergingen sich in einem Getu und stellten sich an und hätten sich überhaupt. Dem war schlecht widersprechen, und gleichsam vernünftig fügte sie dazu eine Einladung an Cresspahl, im Pastorhause nach einem Fenster zu sehen, das Regen durchließ, Rinnsale auf Aggies gebohnerte Dielen. So erinnerte sie uns daran, daß wir sie einst gekannt hatten als Agathe, und Cresspahl an seinen Beruf, feine und grobe Arbeiten in Holz. Den Anfang hatte sie. Nun war auf Anstand zu achten, und weil Gesine Cresspahl ihn vergaß in ihrem Stolz, bot Frau Abs dem Besuch einen Stuhl an und einen Blechbecher mit Kaffee aus gebranntem Roggen. Den lobte sie gleich. Denn wenn ein Mann, sogar der ihre, einem weiblichen Ratschlag sein Ohr versagt hätte, so müßte sie jetzt den ungesunden Einfuhrkaffee trinken aus Porzellan von einem
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