Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Schwerin, beim Kartoffelackern im Ernte-Einsatz. Wenn in einem Paar einer Kartendienst hat, nimmt eben Gesine auch die Schüssel von Pius und bringt ihm die Schulspeisung. Ein Paar hat mehr Zeit als andere Leute; diese zwei können sich den Bummel schenken, mindestens zwei Nachmittagsstunden die Stalinstraße rauf und runter mit der zitternden Ausschau nach dem Gegenstand der Sehnsucht; ein Paar hat sich schon.
Das will ich euch mal sagen: Pius ist so wenig katholisch wie sie evangelisch ist.
Im Frühjahr 1950 meldeten wir uns gemeinsam zu Aufräumearbeiten bei der Deutschen Reichsbahn, denn diesmal hatte der alte Pagenkopf eine gesellschaftliche Betätigung erbeten, die mit Augen zu greifen war. Das Paar stocherte drei Wochen in dem verschlampten Gleisschotter des Bahnhofs Gneez umher, mit Schaufel und Picke, auf dem Foto ist »die Freundin meines Sohnes« beim Schippen zu sehen, während Pius, freundlich auf einen Stiel gestützt, in Jakobs Kamera blickt, ein Strickkäppchen hat er auf dem Hinterkopf. Der Lohn (der materielle Anreiz) war ein Freifahrschein zu einem beliebigen Ziel, aber einer Reise zu zweit waren wir enthoben, weil Cresspahl meinen Gutschein benötigte für eine Reise nach »Berlin«, so daß Pius allein nach Dresden fuhr, dem Ansehen seines Vaters zuliebe über Wittenberg und mir zuliebe zurück über Westberlin. Denn wenn einer reist in einem Paar, bringt er dem anderen etwas mit: Gesine Cresspahl, Zehn A Zwei, hat einen Kugelschreiber.
Das Vorspiel war man mau, aber jetzt kommt Fritz Reuter gegen Grevesmühlen, Pius macht doch wieder Mittelsturm. Siehst du, zwei Minuten bis zum Anpfiff, da kommt Gesine. Da drüben, in dem leeren Fleck auf den Bänken, die mit den Zöpfen, die sich jetzt den langen Rock um die Beine zurechtstreicht. Die sich jetzt stramm aufrichtet, damit Pius sie sieht. Warum sollten die wohl winken! er hat sie längst gesehen. Du, und Beifall klatscht sie ihm auch nicht. Er weiß doch. Die sind doch ein Paar.
Ja, aber kann denn Liebe Sünde sein?
In Winterzeiten störten uns die Stromsperren bei der Aufzeichnung der Benzolreihen oder der gesellschaftlichen Motivierung der Lady Macbeth, oft war dann eine Stunde abzuwarten bis zum jerichower Abendzug. Da konnte es vorkommen, daß Pius sich an den Flügel setzte und für mich spielte, was ihm in acht Jahren beigebracht war (er hatte sich die »Träumerei« von Schumann gründlich eingeübt, damit hab ich ihn einmal von der Straße her gehört, an einem staubigen, müden Sommernachmittag; Träume mit Lise behielt er für sich). Aber oft war es ganz still hinter unseren dunklen Fenstern. Am Anfang überfiel uns Saitschik mit seiner Eva Matschinsky unter dem Vorwand, sie wollten uns Kerzen bringen. Dann sahen sie Pius zurückgehen zum Flügel, die Cresspahlsche ohne Aufregung weiterrauchen, so daß sie uns für ungemein geschickt halten mußten. Obendrein war ihnen der Anlaß für ihren Besuch verloren gegangen. Er hatte mir vom Typhustod seiner älteren Schwester erzählt, ich ihm von Alexandra Paepcke. Wir haben gewiß sagen dürfen: Wir wissen etwas von einander.
Einmal, ich war sechzehn, fiel der Eisenbahnbetrieb nach Jerichow aus, ich habe übernachtet bei den Pagenkopfs, in einem Zimmer allein. Ich habe nicht gewartet auf Pius.
Pius hätte mir jede Auskunft verweigert über die abgewandelte zweite Zeile des Liedes von jener Angelina, die noch warten muß.
Wir haben darauf geachtet, einander nie die Hände zu geben.
Im Sommer 1951 waren wir mit den Rädern unterwegs. Am Cramoner See, schräg gegenüber dem Dorf Drieberg, machten wir Halt für eine halbe Stunde Schwimmens. Beim Umziehen war ich, war er ungeschickt, einen Atemzug lang kamen wir mit den Füßen an einander.
Aus Spaß, Gesine, das wär mir zu wenig.
Wo keine Liebe wächst, gedeiht die Sünde schlecht.
Sag ihren Namen nicht, Gesine.
Frag mich nicht nach Jakob.
Aber wir haben doch kein Wort gesprochen damals!
Nein, Pius. Quer über den See sind wir geschwommen.
Pagenkopf und Cresspahl haben die Ferien zusammen verbracht. Nach Schönberg sind sie gefahren, nach Rehna. Pius hat ja zwei Wochen gewohnt bei den Cresspahls, sind sie jeden Morgen von Jerichow an den Strand gegangen. Das ist doch Jacke wie Hose, was die tun, wenn sie allein sind! Das ist unser Paar.
New York, N. Y. July 21, 1968
» MARIE H. CRESSPAHL
Liebe Anita Rotes Haar,
obwohl noch immer mein Geburtstag ist, will ich dir noch heute den Bedankmichbrief schreiben, weil du dir die
Weitere Kostenlose Bücher