Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
Vom Netzwerk:
Jerichow; wie konnte er ahnen, daß die Zwillinge Wendennych dem Genossen Schettlicht über den Mund gefahren wären! Endlich riß Jakob die Geduld, und die Deutsche Reichsbahn schob einen Werkstattwagen auf Papenbrocks nunmehr staatlichen Gleisanschluß, mit Bänken wie zu einer Beratung aufgestellt, auch einem Ofen, für den das Gaswerk eine Schubkarre Kohlen stiftete; denn wo immer Jakob mit Leuten zusammen arbeitete, sie waren ihm willig zu Dienst wie er ihnen, wie üblich unter Freunden. In diesem Waggon, unter dem Licht von Stall-Laternen, hielt Cresspahls Tochter sich bis zur Weihnachtszeit.
    Sie versuchte, das bescheidene Kind darzustellen, das bereuen will mit Fleiß; sie wollte überdies hinnehmen als Gerechtigkeit, daß sie kaum belobigt wurde für das geläufige Aufsagen der Hauptstücke zur Taufe. Wasser allein tut’s freilich nicht. Allerdings, zum Stillsitzen mußte sie sich zureden, und vor ausführlichen Blicken auf Brüshaver hütete sie sich. Denn Brüshaver schien in einem fort zu lächeln. Es waren bloß verrenkte Muskeln, gezerrte Sehnen, die zogen ihm die Mundwinkel nach unten, hielten ihm die Falten neben den Augen starr in einer Grimasse unwissentlichen Grienens. Auch tat er, als sei ihm der vierte Finger der Rechten immer so piel von der Handfläche weggestanden, steifer Haken eines Bogens aus Schmerz, der ihm die Schulter nach unten zwang. Wenn er das Buch anhob mit Zeige- und Ringfinger, bis er den Daumen darüber schob wie von ungefähr, schien die Hand künstlich, schlimm. Er stöhnte achtlos, wenn er den Unterarm bemühte; da kann einem das Zusehen weh tun. Religionsunterricht wird katechetisch gehalten; da war keine Zuflucht vor Brüshavers behinderter Stimme, die etwas ungemein Körniges in seiner Kehle um und um wendete, als sei jeder Laut ein Schaden für das innere Gewebe. Gesine hielt sich besessen vor, daß dies seine Mitbringsel waren aus sechs Jahren in Oranienburg und bei Weimar, aufzuwiegen gegen einen amtlichen Ausweis, vor dem seine Genossen auf dem Rathaus, beim Kreisschulamt Gneez, bei der Behörde des Landrats mittlerweile die Hände hoben, als scheuchten sie etwas weg. Nur, immer konnte sie nicht aufpassen auf sich, und es war gewiß gegen ihren Entwurf, daß sie sich sagen hörte, mit Dröhnen in den Ohren, als spreche sie unter Wasser: das mit der Ubiquität, sie könne es auswendig, sie werde es auf Verlangen vortragen, aber daran zu glauben, es mißlinge ihr.
    Sprach’s und lief so blindlings zur Tür auf die Bühne des Waggons, sie wäre fast gestürzt von der hohen Treppe, lief durch die naßkalte Bahnhofstraße in den finsteren Abgrund des Marktplatzes, versteckte sich in der zerschlagenen, lichtlosen Telefonzelle, geschüttelt von keuchendem Weinen, mit Furcht vor der Dämmerung, in der alle sie sehen würden.
    Cresspahl erinnerte sich an den Winter 1944, als sie in eben dieser Kabine Schutz gesucht hatte vor Schule und Behörde, er kam sie schon zur Abendbrotzeit retten. Er führte sie ab wie ein Kind, einen Arm um ihre Schulter, und der Weg ersparte ihr das Licht im Haus und den Blick von Jakobs Mutter, die dunklen vom Brillenglas vergrößerten Augen; ins Bruch ging die Reise, wo nur Hasen und Füchse unbesorgt hören durften, daß ihr die leibliche Gegenwart Christi im Abendmahl kannibalisch vorkomme. Es war das letzte Mal, daß er sie hielt und führte wie ein Vater; von seinen Tröstungen hat sie die behalten, die sie freisprach: You gave him a chance. Versucht hast du’s, Gesine.
    Am nächsten Nachmittag sah sie Frau Pastor Brüshaver auf den Hof kommen; pfeilgeschwind verzog sie sich in die Franzosenstube, die Jakobs Mutter uns hatte einräumen lassen als ein Zimmer zum Essen, in ihrer Schicklichkeit. Im Versteck, so rasch sie denken konnte, dachte Gesine sich Vorwürfe zusammen gegen die Abgesandte der Kirche, Waffen für den Fall der Entdeckung: Aggie hatte schon 1937 aufgehört, Kinder zu unterweisen in der christlichen Lehre. Zweifelte sie an dem, was ihr Mann als Glauben verkündete? Cresspahl redete sie zu, sich umgekehrt aufhängen zu lassen vor einem Röntgenschirm, damit seinen Nackenschmerzen auf die Sprünge gekommen werde; ihren Mann ließ sie hantieren mit einer Dupuytrenschen Kontraktur, strangartige Verhärtungen in der Hohlhand, ein Chirurg weiß da zu schneiden. Krankenschwester war sie, von ihres Mannes Sorgen mit noch dieser Staatsmacht ging sie weg in Jerichows Klinik, auch mit dem Schreibkram der Gemeinde ließ sie ihn allein; ist

Weitere Kostenlose Bücher