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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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Genossen Wendennych ihr eine Vergütung stifteten für ihre Dienste, als wär sie ihresgleichen, einen Bezugschein nämlich für ein Fahrrad, schwedische Importware, das Prunkstück im staatlichen Laden auf der Stalinstraße von Gneez; die Bürger nannten es das erste Fahrrad in Mecklenburg, für das »die Russen« bar Geld entrichtet hätten; von ihr als dem »Russenliebchen« sprachen sie obendrein. So konnte Anita pünktlich zum 1. September 1948 mit dem Fahrrad zur Fritz Reuter-Oberschule reisen, anderthalb Stunden morgens, anderthalb Stunden zurück nach Wehrlich, über unbefestigte Landwege gegen Regen und Westwind in diesem naßkalten Herbst. Das Rad brauchte sie bloß abzuschließen; gegen Beschädigungen war es gefeit, denn »die Russen« als Umgang mochten schlechte Empfehlung sein, als Rächer waren sie gefürchtet. Ein Rad mit weißen Reifen, TRELLEBORG war den Schlauchmänteln seitlich aufgeprägt. Es stimmt, die Herren Wendennych fragten sie auch nach ihrem eigenen Ergehen und nahmen Anstoß an ihrer Gewohnheit, die Schularbeiten in der ehemaligen Stadtbibliothek zu erledigen, unter dem Patronat des Kulturbundes (z. D. E. Deutschlands), weil ihr ein Zuhause abging und ihr Schinder von einem Gastgeber, wir verzichten auf den Namen, sie von den Büchern zum Ausmisten seines Schweinestalls schicken konnte; die Kommandantur von Jerichow erwirkte bei der von Gneez eine Erlaubnis zum Zuzug und eine Einweisung in Frau Dr. Weidlings Wohnzimmer, außer der Reihe, eine Ausnahme, eine Gunst. Eine gefährliche, noch ein übler Leumund; obwohl Frau Dr. Weidling im November von der Kontrassjedka geholt wurde wegen ihrer unbeschwerten Reisen mit einem Mann in schwarzer Uniform in den deutsch besetzten Ausländern, keines Weges damit Anita Gantlik eine ganze Wohnung für sich allein bekam. Aber so hieß es. Und wir waren dabei, als Anita zum ersten Mal drankam bei der Freifrau von Mikolaitis, die ihre baltische Herkunft bei uns als Unterricht im Russischen verkaufen durfte, Gnaden halber; Anita erhob sich demütig, deutete einen Knicks an und gab der fahrigen alten Dame eine längere Antwort. Das war alles, was wir verstanden, nach unseren doch drei Jahren Unterweisung im Russischen; es hörte sich an wie: Das russische Wort für Bahnhof, gnädige Frau, woksal, es verdankt sich dem Vergnügungspark nahe dem Bahnhof London-Vauxhall, wie auch der Zar Alexander der Zweite Nikolajewitsch einen errichten ließ in seiner Stadt Pawlowsk, Rayon Woronesh; das Wort woksal ist gewißlich gefallen. So geläufiges, druckloses, unangestrengtes Sprechen war der Freifrau ungewohnt von uns, das ging auch über ihre Fertigkeiten; schlicht aus Notwehr bemängelte sie, wie Anita das o benutzte. Bei Anita klang es trocken, anders als in unseren mecklenburgischen Dehnungen; sie dankte für die Belehrung auf russisch. In der Woche danach meldete sie sich bei der Mikolaitis. Sie habe bei den native speakers (auf russisch!) ihr o vorgesprochen; es sei abgesegnet worden als die moskauer Üblichkeit. Wenn sie hilflos klang, bittend, war das unverstellt; sie bat die Lehrperson um eine Entscheidung. Das Ende von diesem Lied war: die Mikolaitis lud Anita zu Privatstunden ein, aber um von Anita den Fluß des Sprechens zu lernen. Die tat salomonisch; feige war sie; wir haben an den Erwachsenen weniges zum Nachmachen gefunden. Unbestreitbar, drei vier Mal in der Woche knackt es im Lautsprecher über der Wandtafel, dann sagt Elise Bock durch, Schulsekretärin wie ehedem: Gantlik ins Rektorat. Anita verabschiedete sich von der Fachkraft für Deutsch oder Biologie, seufzte ein wenig, knickste nach der Vorschrift und packte ihre Hefte zusammen wie für einen Abschied auf immer. Zwei Schulstunden später, mitunter nach drei, war sie zurück an ihrem Platz, hatte im Rathaus für Herrn Jenudkidse die Dolmetscherin gemacht; indem Slata abgegangen war. Ein bescheidenes Mädchen, kam in einem abgewetzten schwarzen Kostüm in die Schule wie zu einer Festlichkeit. Sprach leise, mit niedergeschlagenen Augen. Daß sie ihr langes schwarzbraunes Haar in geflochtenen Windungen um den Kopf trug, sie wird es für eine städtische Mode gehalten haben. Eine breite, gedrungene Stirn, hinter der es ängstlich zuging in diesem Herbst. Ungeschickt war sie überdies; lieh sich die Aufzeichnungen der versäumten Stunde von keinem anderen als Dieter Lockenvitz, dem Primus; Lockenvitz standen die weißen Haare zu Berge vor Zerstreutheit, vor drängender Nachdenkerei übersah

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