Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
das die Vorschrift für eine christliche Ehe, Aggie?
Aggie antwortete ihr durch die geschlossene Tür, unbelauscht glaubte sie sich mit meinem Vater im Flur, mutlos fragte sie ihn, als bäte sie um Vergebung für sich selber: Und wenn das Kind nun recht hätte, Cresspahl?
Die Sonne hing im westlichen Nebel, viertels schon weggedreht von der Erde; ihr niedriger Schein füllte die Stube mit dickem blutfarbenen Licht. In einem so roten, drohenden Dunst war ich zum ersten Mal.
Im März setzte Cresspahl dem Pastorat eine neue Fensterbrüstung ein, von Hand aus einer Eisenbahnschwelle gefertigt, so innig mit Karbolineum getränkt, da standen Tautropfen fest ohne zu zerfließen. Inzwischen hatten die Brüshavers einen meterbreiten Streifen mürber Wand gefunden, vom Dachboden bis ins Erdgeschoß entlang des Schornsteins, von Gegnern der Mecklenburgischen Landeskirche im Jahr 1944 mit ein paar Meißelschlägen in den Kupferflansch gestiftet. Das gehörte zu Brüshavers Erbe. Der Pastor von Jerichow wohnte in einem kaputten Haus.
Am Sonntag nach Palmarum 1949 war bei Brüshavers Taufe. Aggie (»bei mir wächst alles so«) hatte noch einmal ein Kind, einen Jungen, Alex.
Personen, die die Allgegenwart Christi bestreiten, sind weder einer Konfirmation würdig noch den Pflichten aus einer Patenschaft ebenbürtig, das versteht sich, und Cresspahls Tochter erfuhr ohne Neid, es sei neben Jakobs Mutter ein anderes Kind aus der Konfirmationsklasse bestimmt worden, über Alexander Brüshavers christliche Lebensführung zu wachen, ein ehemals ostpreußisches Mädchen, das die Sache mit der Ubiquität sowohl aufsagen als auch auf sie vertrauen konnte. Gantliks Tochter war sie, Anita hieß sie.
– Bißchen viel Kirche, Marie?
– Hatte dein Pastor auch seine Haare verloren?
– Brüshaver ohne Barett, es war ein Anblick zum Fürchten. Weil man in der Schläfe das Überbleibsel einer Wunde sah, eine rötliche Höhlung, walnußgroß.
– Was war das Altlutherische?
– Eigenheiten im Punkte der Rechtfertigung, der Versöhnung, der Trinität. Wenn du mich fragst, ein vereinsrechtlicher Streit.
– Das gab Jakobs Mutter auf für dich?
– So denken bloß Kinder, die sich in der Mitte der Welt glauben. Nein, zu den Altlutheranern in Gneez oder Wismar schaffte sie es einmal im Monat. Sie wollte lieber jeden Sonntag in die Kirche gehen können.
– Warst du aufrichtig, als du von der Beistelltreppe am Waggon gestürzt bist?
– Vielleicht war ich eingebildet auf meinen Einfall. Allerdings tut er mir Dienste bis auf diesen Tag.
– Weil ihr überall lügen mußtet, hast du deine Wahrheit an Brüshaver ausgelassen. Gib es zu.
– Geb ich zu, Marie. Und es sollte endlich zu Ende sein.
– Du warst eben viel zu klein, Gesine. Wie soll ein Kind entscheiden, ob es glaubt. Ich laß mich konfirmieren, wenn ich Bescheid weiß, so mit achtzehn, vielleicht.
23. Juli, 1968 Dienstag
Auftritt Anita.
Keine »kleine Anna«; ein groß gewachsenes Mädchen, kräftig in den Schultern wie ein Junge, athletisch nahezu von der Feldarbeit, die ihr im Dorf Wehrlich abverlangt worden war für bloß das Essen und eine Strohsackpritsche unter einem tröpfelnden Reetdach, weil sie kein einheimisches Kind war sondern ein vertriebenes, von fast keinem Besitz gedeckt, ohne eine Mutter, mit einem Vater, der sie zurückließ in der bäuerlichen Knechtschaft und seinen Sold von der Polizei in Jerichow für sich behielt, als wünsche er dieser Tochter ein Verkommen und Verrecken. So sah es aus, und wenn das Kind in die Stadt kam zu Gottesdienst und Konfirmationsstunde, anderthalb Stunden Fußweg auf barften Beinen, sie ging an ihrem Vater vorbei, gleichmütig blickend, ohne Zorn. Wie kommt ein solches Kind, ohne Vormund, ohne Beistand, weg aus der Tagelöhnerei in die Landstadt Gneez, in eine fortbildende Schule, in eine Wohnung in der begehrten Gegend, am Stadtgraben, in ein dreistöckiges Haus mit fließendem Wasser aus Wand und Licht aus Decke?
Als sie eintrat in die Neunte Klasse, war das Gerücht schon da und begrüßte sie böse: es hätten »die Russen« ihr dazu geholfen. Daran ist wahr, daß die Herren Kommandanten von Jerichow, die Zwillinge Wendennych den Abstecher über Wehrlich einrichteten, wenn sie über Land fahren wollten als herrscherliche Reussen, und diese Anita, ein fünfzehnjähriges Kind, bei sich sitzen ließen, damit es ihnen übersetze, was diese Deutschen in Mecklenburg zu sprechen versuchten. Davon trifft zu, daß die
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