Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
er, daß dies Mädchen gern für eine Minute an seinem Tisch hätte sitzen mögen, damit er zwischen seinen Zeilen und Formeln umherdeute, eigens für sie, damit er sie einmal wahrnehme. Wenn Lockenvitz an der Tafel stand und algebraische Erfolge zu erzwingen versuchte, denn in Mathematik blühte sein Weizen nur mit Quecken durchwachsen, so waren ihre Augen weit offen auf ihn gerichtet, sichtbarlich hoffte sie etwas für ihn, sehnte sich, helfen zu dürfen; ich bebte ein wenig für sie, sie wäre ein Fressen für Lise Wollenbergs Mundwerk gewesen. Aber nur Pius und ich sahen, was da verloren ging an Wünschenswert. Wenn sie einmal glücklich gewesen ist in diesem Winter, dann als sie ihren Vater hatte zwingen können, sie amtlich anzumelden in Gneez und sich zu verdrücken mit wendender Eisenbahn, so daß sie zum ersten Mal allein war in einem Zimmer, hinter dem eiskalten Glas, mit Blick auf Nebel und frierende Lindenkronen, in der Fremde, aber für sich.
Denn weißt du, Gesine, ich hieß ganz anders als Gantlik.
War er dein Stiefvater?
O daß doch, Gesine. Utinam! Daß er ein Fremder gewesen wäre, ohne ein Recht auf mich.
»Anita« ist auch ein falscher Name?
Da hat meine Mutter einen Film mit spanischer Szene gesehen, einen Schlager gehört 1933. »Juanita«; ich vergeb’s ihr.
Und deinem Vater nie.
Wenn er mal stirbt.
Unsere sanfte, rachsüchtige Anita.
Wir saßen an der Memel, aber wo sie auch Njemen heißt, mit gutem polnischem Namen, davon ist Gantlik der Stummel. Kommen die Deutschen und bieten uns den blauen Ausweis an, Deutsche Volksliste Gruppe 1, wegen aktiver Tätigkeit im Volkstumskampf »bewährte« Personen deutscher Staatsangehörigkeit, wegen eines Großvaters aus Westfalen. In die deutsche Hakenkreuzpartei geht er, Schwachkopf von einem Vater, weil ihm das gefällt, wie deutsche Panzer ein polnisches Dorf flach legen. Beifall für die Deutschen, und wir alle mit, Mutter, Geschwister. Gantlik.
Ohne einen deutschen Paß hätten die Deutschen ihn leicht zur Arbeit gepreßt im Altreich, Anita. Ohne die Familie. So bekamt ihr Lebensmittelkarten, durftest du eine Schule besuchen.
Eine deutsche Schule.
Eine Schule. Und du durftest ins Kino gehen.
Die Stadtmaus und die Feldmaus. Hitlerjunge Quex.
Und deine Mutter konnte mit euch in ein Café gehen, in Restaurants, und durfte einkaufen in den Geschäften.
Und mein Vater, als Reichsbürger unter deutschem Pseudonym, er wurde für den Hof entschädigt, bekam einen neuen bei Elbing. Als die Rote Armee uns einholte im Januar 1945, konnten wir schriftlich vorzeigen, daß wir Deutsche waren. Meine Mutter, meine Geschwister, auf freiem Feld haben wir sie beerdigt. Mein Vater, der Deutsche, er konnte für kein elfjähriges Kind einstehen.
Du betest, Anita. Da gibt es eine Bitte, die mit dem Vergeben.
Das tu ich. Den drei Russen, die mich zwischen genommen haben, allen Russen in Bausch und Bogen.
Nie deinem Vater.
Dem Gantlik, ehedem er stirbt. Das war sein Krieg. Der hat es gemacht.
Dann warst du neugierig auf die Russen. Weil sie ihre Rache gehabt haben an einem elfjährigen Kind.
War ich, Gesine. Bin ich noch heute.
Weißt du, was wir gesagt haben, wenn das Dreifache J dich aus der Stunde holen ließ? »Anita geht Blut spenden.« Weil immer du es sein mußtest. Weil du so erschöpft zurück kamst.
Das war Pius.
Pius wier ’n gauden Minschn.
Das wollen wir sagen. Damals habe ich das mit dem Njemen, mit der Memel versteckt, weil mir bange war, ihr nennt mich »Volksdeutsche« hinter meinem Rücken. Oder »Beutegermanin«.
Ihres Vaters entledigte sich die Schülerin Gantlik, indem sie über das Rote Kreuz eine Schwester ihrer Mutter aufspüren ließ, eine Witwe mit zwei Kindern, die hungerte im Ruhrgebiet, der klangen die Namen Gneez und Mecklenburg nach Fleischtöpfen. Die wurde auf dem Papier der Vorstand von Anitas Haushalt am Stadtgraben, deren Lohn wurde der Grundstock des Wirtschaftens; gleich nach der Abtrennung der westlichen Zonen von der sowjetischen fing sie an, in einer jammernden Tonart sich zu rühmen wegen des Opfers, das sie für ihre Nichte Anita bringe in einer Gegend, für deren Geld weniger zu erwerben war, von der Butter bis zur Armbanduhr. Sie vergaß bequem, daß Anita ihr ein Dach über dem Kopf verschafft hatte, daß Anita in die gemeinsame Kasse zusteuerte aus ihren Honoraren, daß Anita es war, die ihre zwei Jungen, um die elf Jahre alt, annahm zu einer Erziehung. Der Vater kam noch vor, wenn wir der Schule
Weitere Kostenlose Bücher