Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
unsere Genealogie vorzutragen hatten behufs einer Würdigkeit für die Erziehungsbeihilfe (zweiundzwanzig bis zweiunddreißig Mark). – Mein Vater ist Arbeiter: sagte Anita, so ostpreußisch sie es vermochte, schrieb sie hin. Dann wurden die Fragebögen spitzfindiger und verbaten sich allgemeine Auskünfte. – Mein Vater klopft Rost auf der Warnow-Werft in Rostock: gab Anita zu Protokoll.
Haben wir einander bekannt, als Freundinnen bestimmt zu sein? Wir haben uns gehütet. Von der Arbeitsgemeinschaft Cresspahl/ Pagenkopf borgte Anita weder Blatt noch Stift; auch hatte sie einen Verdacht gegen solche Vorführung von Ehe unter Schülern, oder wollte ihr einen Respekt bezeugen durch zurückhaltendes Wesen. Es war Pius, der ihr im Vorbeigehen sein ausführliches Zirkelbesteck auf den Tisch legte, weil sie für eine geometrische Hausarbeit bloß ausgerüstet war mit einem selbstgemachten Halbkreislineal ohne Gradeinteilung; Pius wollte Lise Wollenberg wieder einmal etwas unter die Nase reiben; auch konnte er schlecht ansehen, wie ein Mensch sich plagt. Als Anita es zurückbrachte anderntags, bedankte sie sich hoch aufseufzend; übersah die Schülerin Cresspahl, die saß neben ihm. Wo ich fürchtete, sie werde mir ein Wort anrechnen als Herablassung, wollte sie bescheiden erscheinen. Denn sie kam sich fremd vor, unerwünscht, ein Eindringling, ein Flüchtling. Auf einem Schulausflug traf die Neun A Zwei einen Köhler beim Aufbau eines Meilers, der Geisteswissenschaftler Kramritz übersetzte die böhmakelnden Auskünfte des rußhäutigen Wanderers in ein Obenhin von Wissenschaft; Anita fing an zu erklären in vor Aufregung gequetschten Tönen, was in ihrer Kindheit eine Arbeit gewesen war. Die Schülerin Cresspahl war begierig zu wissen, wie denn die Holzkohle für die Bügeleisen gemacht wird; Anita sprach leiser, geriet ins Stocken, verstummte.
Anita, die Ortsfremde, fand ein Stück Wiese mit einem Pfad durch Schilf, am Südufer des gneezer Stadtsees, und glaubte sich aufgehoben vor den Einheimischen; wie erschrak sie, als aus allen vier Neunten Klassen Leute auftraten an ihrem gewohnten Badeplatz, im April noch wenig ausgetreten. Gleich nahm sie ihr Handtuch über, geniert, weil sie in der Ausbildung eines Busens voran war; sichtbar blieben lange, schmale Oberschenkel, feste Waden. – Schöne Beine: sagte Pius, als wir über den See zu den Bootshäusern schwammen; – Lebendige Beine: versetzte ich; gelernt ist gelernt. Bei unserer Rückkehr fanden wir sie umlagert von jungen Männern aus der Zehnten, die begehrten ihr Handtuch zu leihen, rühmten ihr breitbahniges, welliges Haar, boten ihr Zigaretten an; wie Männchen eben balzen. In ihrer Verlegenheit sagte Anita, verächtlich und bebend, etwas über die Dummheit von Leuten, die in der Schule die Struktur der menschlichen Lunge auswendig lernen und hinterher sie versauen mit dem Einatmen von Tabakrauch. Wir sahen uns um (Pius und ich) nach Lockenvitz, obwohl wir ihn abwesend wußten in einer Sitzung der Z. S. G. L.; wer hingegen am Rande der Badegruppe sichtbar auffiel mit einer Zigarette zwischen den Fingern, war die Kresse, die Kresse am Pfahl, Röbbertin sin Gesin. Was bleibt einem da, als hochmütig gegen die Maisonne zu blinzeln und sorgfältig zu ziehen an der Zigarette aus Dresden, das Stück immerhin zu zwölf Pfennigen und nachgemachte »Lucky Strike«?
Das war vorlaut von mir, Gesine; gegen meinen Willen.
Und wie konnte ich dir sagen, vor versammelter Mannschaft, daß Pius einmal dein Patenkind zur Brust zu nehmen gehalten war, den halbjährigen Alex, und mir erzählte von dem erfrischenden Duft, den Kinder ausatmen?
Wie frischer, ungebrochener Kreppstoff.
Ein Atem, wie ich ihn auch mir noch zutraute. Wollte ich Pius bewahren vor einem Appetit darauf, mußte ich anfangen zu rauchen.
Wenn ich gewußt hätte, Gesine, daß ich dir weh tu!
Das war eine Annäherung; die ging in die Binsen am Stadtsee; an was sollte Anita glauben als an noch einmal Geringschätzigkeit? Dabei bedauerten wir einander innig. Sie mich, weil ich dem Pastor von Jerichow beschwerlich gefallen war mit einer Schau von Aufrichtigkeit; ihren betroffenen, für mich leidenden Blick von der Seite, bloß fühlbar im Licht des Konfirmationswaggons, ich habe ihn zuverlässig aufbewahrt. Ich sie, weil sie insgesamt verstand, was sie ablieferte in den naturwissenschaftlichen Fächern (Mathematik: 1; Chemie: 2; Biologie: 1) und dennoch unterm Strich unbeirrt einen Gott herausbekam, der
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