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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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anwesend ist im Molekül, im Atom und in den Sperlingen, die er vermittels Kernwaffen vom Dache schießt. Anita, zuständig nach Gneez, nahm an jedem Sonntag die Reise zur Petrikirche von Jerichow auf sich; bloß weil der Dompfarrer von Gneez es mit dem Landespastor Schwartze (Ludwigslust) hielt und seinen ureigenen Bischof Dibelius (Westberlin) als einen Kriegshetzer, auch ein »Instrument der amerikanischen Aggression« verteufelte, als »Atom-Dibelius«; Dibelius hatte von der Verwaltung der sowjetischen Besatzungszone und ihrer K 5 gesprochen als einem »Staatsgebilde«, auch von
    Gewalt,
    die über alles Recht hinweggeht,
    innerer Unwahrhaftigkeit und
    Feindschaft gegen das christliche Evangelium;
    Brüshaver wollte es noch einmal versuchen mit seinem Martin Niemöller, im Rat der E. K. i. D., Unterzeichner der Schulderklärung von Stuttgart und Verfasser der Meinung, sämtliche Besatzungsmächte sollten abziehen aus Restdeutschland und es durch die Vereinten Nationen am Frieden halten. Deswegen fehlte Anita, wenn wir an Sonntagmorgenden im blauen Hemd die städtischen Anlagen durchharkten oder ein Drittel Schulhof umgruben für einen Mitschurin-Garten; im kleinen Schwarzen trat sie vor Brüshaver, wird auch wohl in der Kommandantur bei den Wendennychs vorgesprochen haben; denn anders als wir wurde sie kein Mal verwarnt wegen eigenmächtiger Abwesenheit. Und hieß mittlerweile Anita die Rote, weil das Schwimmen unter der Sonne des Frühlings von 1949 ihr Haar ausgebleicht hatte und einen Stich ins Rötliche durchscheinen ließ.
    Und in Jerichow hatt ich ein Patenkind, Gesine.
    Und in Jerichow gingst du zum Abendmahl.
    Einmal im halben Jahr. Meist wär es doch unverdient gewesen.
    Böser Gedanken wegen? Sag an, Anita.
    Neidischer Gedanken halber, Gesine.
    Anita hätte Kind im Hause sein können bei den Brüshavers; sie fürchtete den Anschein, sie drängte sich auf, vor allem Mitleid. Überdies war Aggie bloß Krankenschwester, wie immer diplomiert; Anita benötigte jemand, der hatte auf ein ärztliches Geheimnis geschworen. Hätte sie mir getraut, auf der Stelle wär ich angekommen mit Jakobs Mutter. Jene Tante aus der britischen Besatzungszone, sie ließ sich von Anita die Hauswirtschaft besorgen, mit hin die Wäsche, ein Badezimmer teilten sie; ihr fehlte der Verstand, eine Sechzehnjährige zu befragen wegen ihrer Regel. Sonst sah Anita in der Welt nur Männer. Anita begab sich in die Poliklinik von Gneez, Eisenbahnstraße Ecke Stadtgraben, in der Hoffnung, sie werde dort durch eine Maschine passieren und namenlos herauskommen. Das mit der Maschine war so. Hinter jenen Milchglasfenstern, friedensmäßig von Weinranken eingefaßt, erfuhr sie von der gonorrhœ cervicis, die die Rote Armee ihr gestiftet hatte, als sie elf gewesen war. Sie hatte den Rache-Akt fast »vajassn«, insofern sie ihn mit Ausdauer beiseite zu denken versuchte.
    Die Baracke in Schwerin, in die Anita spornstreichs überführt wurde mit Seuchenschein, sie beschrieb die später als ein Lager. Da lag sie zusammengesperrt mit jugendlichen wie ältlicheren Damen, die solche inneren Beschwerden freiwillig in sich gezogen hatten, auch gegen Vergütung. Die Leitende Ärztin erinnert Anita als scharf, zickig, »eine Nazisse«; die konnte sie leicht sich vorstellen mit einem Hakenkreuz am Kittel. Denn Anita wurde angefahren, als sei sie schuld; weil eine andere Schuld zu Tage getreten war. Jene ärztliche Erfahrung warf ihr Trödelei vor, Anita war in Polen festgehalten, als die Kinder um Jerichow von Amts wegen befohlen wurden zur Untersuchung auf Geschlechtskrankheiten (gez. H. Cresspahl, Bürgermeister); sichtlich war der Verlauf fast symptomlos, bis auf mäßigen Fluor. Der Befund lautete auf Übergriff der Ansteckung auf das cavum uteri, mit endometritis specifica als vorläufigem Ergebnis. Anita wurde beglückwünscht, weil sie davongekommen war ohne Schmerzen; – stellen Sie sich nicht so an!
    Die Anrede mit Sie stand ihr zu, weil sie in die Zehnte Klasse versetzt war; die Behandlung mit Kurzwellen-Bestrahlungen und einem Sulfonamid, das den Urin rot färbte, kam ihr gefährlich vor. Aus dieser Bewahranstalt entwich sie, durch Wälder und auf Feldwegen bei Nacht ostwärts. Einer aber, das Dreifache J von Gneez, hatte sie inzwischen entbehrt; vom Gräfinnenwald bis hinunter in die griese Gegend warteten uniformierte Leute in seinem Dienst und Sold gerade auf solch ein Mädchen, das allein schlich, unbewaffnet, und sich ausgab für eine

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