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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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angeblich ohne jede Gesellschaft hinter verriegelter Tür? Schallplatten von Tschaikowskij, allemal. Und den Sender der Roten Armee, Radio Wolga, schwach aus der Gegend von Potsdam vernehmbar. Unersättlich war sie neugierig auf die Rote Armee der Russischen Arbeiter und Bauern.
    Was sie sagen würde zu der neuesten Nachricht aus der Č. S. S. R., es müßte mir einleuchten. Die Führung der tschechoslowakischen Partei der Kommunisten hat ein Treffen mit den sowjetischen Genossen samt Anhang auf deren Gebiet verweigert, auf eigenem angenommen. Als ob es da kein Freundschaftsspiel würde.
    Daß die K. P. Č. ihnen den Fahrplan umschreibt, es ist doch wie in ihre Suppe gespuckt. Warum sollen sie das je vergeben?
    Und Truppen wollen sie schicken an die böhmische Grenze mit Westdeutschland.
    Hörst du? Truppen wollen sie schicken.
    In Polen, drei Meilen nördlich der Tschechoslowakei, haben sie ein halbes Dutzend Armeelastwagen aufgefahren, mit überhohen Antennen, gesichert von zwei Regimentern Kampftruppen.
    Gesine, in das Tal der Olza würde ich mich auch stellen als Rote Armee. Es ist die weichste Stelle, ringsum liegen Berge. Und was braucht eine Armee, wenn sie verreist?
    Eine Funkleitstelle.
    Du lernst es noch, Gesine.
    »Die Rote Anita«; auch aus einem Vorurteil und Irrtum der Volkskunde. Denn Anita tat zwar immer noch mehr als ihren Anteil in die Wirtschaftskasse ihrer Tante (um sie im Haushalt, sich selbst im Wohnrecht zu erhalten); sie behielt etwas ein für Zwecke … sollen wir sie privat nennen? ja, wenn es bedeutet: heimliche. Vorerst hatte sie bei Emil Knoop die Kosten für die Medikation abzuzahlen, bei einem Kurs von sechs bis acht Ostmark für eine einzige des »Westens« (– umsonst ist der Tod: sprach Emil in seiner gemütlichen Art; dem entging ihr Zusammenzucken bei dem Wort). Schließlich, als Geschäftsmann sich gebarend, gab er ihr Arbeit in seinem Schriftverkehr mit der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland, wo Jenudkidses Beihilfe versagte. Ihr Guthaben bei Knoop ließ sie stehen, und wenn sie sich den Hunger wegtäuschen mußte mit Haferflocken und Zucker, zusammengeröstet ohne Fett. Dann verblüffte sie Helene Rawehn, vornehme Schneiderwerkstatt, Markt Gneez, mit Stoffen aus reiner Wolle und Rohseide, und erschreckte die männliche Jugend an Fritz Reuters Oberschule mit erwachsenen Kostümen, tailliert, mit engen Röcken eine Handbreit bis übers Knie und Pullovern, wie sie in diesem Jahr in Frankreich oder Dänemark getragen wurden, für Mecklenburg vielleicht um 1955 zu erwarten. Neben Anita erschien die Habelschwerdt abgeschabt, schäbig gekleidet; wie aber untersagt man einer Schülerin ein Auftreten, das ist zwar elegant, jedoch comme il faut? Zur Belebung und Erweckung von Dieter Lockenvitz: dachten wir anfangs; gerade dem ging sie aus dem Wege. Aber zu Klassenfesten erschien sie, nahm auch Einladungen von der Zwölften und Elften an; Tanzen verweigerte sie. Wenn ein Herr diese Dame nach Hause begleitete, zog er zwar bedankt jedoch ohne Händedruck nach Hause. Anita bekam Anträge, die gingen weit übers Handtuch; auf einen Spaziergang um den nächtlichen Stadtsee gebeten, fragte sie so unverblümt nach den Absichten der jungen Herren, daß die unfreiwillig als Zumutung erkannten, was doch als holder Traum hatte schweben sollen über der Lustwandelei. – Wozu? fragte Anita unbewegt, geschäftsmäßig, und hob den Kopf mit leichtem Ruck, die Lippen geschürzt, offensichtlich wohlbewußt eines Wohin und Wozu. Sie trug ihre Blusen hochgeschlossen, mit einem schmalen Samtband in Doppelschleife; ihr wurde doch gelegentlich »Bitterer Reis« nachgerufen, wegen eines ganz anders berüchtigten Films aus Italien. Die Anita von früher hatte Kniestrümpfe getragen, die kurierte Anita benutzte solche aus Nylon, ohne Naht.
    »De rode Stütz«. Die Haare hatte sie sich schon im Krankenhaus schneiden lassen. Von den Zöpfen war ein kurzes, dicht anliegendes Gefieder übrig, das saß ihr in wohl überlegtem Kreuz und Quer in der Stirn. Im Nacken hatte Fiete Semmelweis jr. zwei winzige gegenläufige Strähnen so belassen, die kamen verblüffend rötlich hervor unter dem äußeren Braun und verschoben sich gegen wie über einander, wenn Anita den Kopf nur ein wenig wandte.
    24. Juli, 1968 Mittwoch
    Am Sonntag sahen wir an, wie ein alter Mann von der Busbank gegenüber unseren Fenstern abgeführt wurde in eine Knickerbocker-Ambulanz, ein Stadtstreicher in Fetzen und im Barte,

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