Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
kenntlich an den beiden Tragetüten, die sein irdisch Gut enthalten. Er schien sich zu sträuben; so ließen die beiden Jungen in Polizistenuniform ihn Luftsprünge machen. Seit gestern ist er zurückgekehrt auf die Bank; er möchte da wohnen. Gegen Entgelt an die Gesellschaft, versteht sich; so unterhält er die wartenden Fahrgäste: Ih, meine Dame: sagt er: ich war man bloß in eine Injektionsnadel gelaufen (zeigt auf sein Unterbein). Da hab ich mir von der Polizei einen Krankenwagen rufen lassen.
Sein nächster Satz verrät uns, daß er sich in Alabama wähnt, und eine glückselige Reise auf dem Fluß wünscht er uns mit dem Bus der Manhattan and Bronx Transit Authority. Ein wenig haben sie ihn rasiert, mit Gewalt scheint es; ein wenig ist er gewaschen. Der brauchte einen anderen Hüter und Hirten als die Polizei.
Anita, als Patin.
Dem Kind Alexander Brüshaver stiftete Jakobs Mutter einen silbernen Breischieber; – von Cresspahl un sine Dochter: sagte sie, der Vollständigkeit halber. Anita hätte viel gegeben um den Löffel dazu; sie stand vor der Wiege mit leeren Händen, verkantete die Zähne gegeneinander, zornig sah sie aus. Brüshaver dankte beiden für lediglich ihre Gebete; Anita fehlte noch der Mut, eines von ihren Gebeten für ergiebig anzusehen.
Ostern 1950 drohte und ein erster Geburtstag; Anita bot ein skandinavisches Fahrrad an zum Verkauf, 600 Kilometer auf den Reifen, durch Pflege neuwertig erhalten. Pius bot achthundert Mark, bar auf die Hand; am nächsten Tag bat sie ihn um eine Unterredung, unter vier Augen, als gehe es um eine Mitteilung von Gefahr fürs Leben. Lockenvitz habe den Preis gesteigert: erzählte Pius, und wir sahen einander ungläubig an, schräg von unten, mit gerunzelten Stirnen. Lockenvitz mochte eine Eins haben in Latein und eine in Englisch; doch kein Geld. Anita legte bei Brüshavers wie nebenbei einen silbernen Serviettenring auf den Tisch, darin war eingraviert 5M04.40 - A. B.
1951. Anita war so aufgewachsen, daß sie das Stricken noch lernen mußte, für dieses Kind. Zwei Meter Shawl.
1952 war für uns Abitur; Anita knüpfte für Alex einen Wandteppich, blind, denn nebenher hatte sie sich einzuprägen, daß eine Kraft die Ursache der zeitlichen Änderung ist für den Impuls p eines Körpers und dieser Änderung gleich: f=d
p
/d
t
(nach Isaac Newton). Alex schlief bis in sein zehntes Lebensjahr neben der farbigen Darstellung von IL FAUT travailler – TOUJOURS TRAVAILLER . Zu der Zeit das einzige Rezept, auf das sie vertraute.
In Westberlin wohnte Anita in einem schmutzigen Haus zwei Blocks von der Karl Marx-Straße in Neukölln, an einem Hinterhof bei Frau Machate. Sieh an, Anita hatte das Umarmen gelernt. Das Zimmer war so schmal, zwischen Bett und Schrank war eben noch Raum zum Aufbocken eines Bügelbrettes, der Liegestatt für den Gast. Zunächst gestanden wir einander, daß die eine der anderen gut bekommen war, seit vier Jahren schon. Als mir einfiel, die Brüshavers hätten in ihres letzten Kindes Namen womöglich eines Nachbarn von ehedem gedacht, mußte ich bis in den Morgen erzählen von Alexander Paepcke, zum Trösten gut noch im Verstorbensein. (Weil Anita wechseln wollte auf das Bügelbrett, ich aber daran festhielt, wachten wir vormittags auf und lagen in dem einen Bett.)
Auf Anitas Brett in Frau Machates Speisekammer hatte ich Kunsthonig gesehen und Margarine; gute Butter, teuren Räucherfisch gab sie mir mit für Alex. Sie fuhr mit mir in der Stadtbahn nach Baumschulenweg, als hätte sie noch Papiere für den Osten; Freundschaft war eines, zudringliches Fragen ein anderes. Einer ihrer Zwecke im »demokratischen« Sektor war sicherlich, die Botin durch die Taschenkontrollen des demokratischen Zolls zu schleusen. Damit Alex seine Notdurft doch erhalte.
Anita war unerbittlich gegen das Kind. Bis er elf war, bekam er von ihr eine Apfelsine für jeden vierten Tag; nie Bonbons oder Schokolade. Wohl aber eine elektrische Zahnputzmaschine, mit sechs Jahren.
1955 mögen andere Kinder in Jerichow eine Schultüte gehabt haben; Alex Brüshaver war für das bildende Institut gerüstet mit einer deftigen Füllfeder. – Uns allen hat der Kugelschreiber die Handschrift versaut: sagte Anita in ihrer deutlichen Art.
Im Herbst, Vadding Brüshaver is dot, begann Anita ihre Briefe an Alex. Darin mußte sie Anstoß vermeiden mit jenen Amtspersonen, die sie öffneten und lasen und meldeten an Ämter; dennoch wünschte ich, sie wären aufgehoben.
Anita hatte sich
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