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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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Russin. Allein im Jeep mit einem Kind, das weder in seiner Sprache noch in einer anderen zu Auskunft imstande war, besann er sich auf einen Saufkumpan, den Dr. Schürenberg, und versetzte ihm Schrecken mit Klopfen nach Mitternacht. Schürenberg verfügte damals noch über das Recht, vorgezogene Patienten im Städtischen Krankenhaus unter eigener Aufsicht unterzubringen; der endlich gab dem Rektorat der Oberschule eine Nachricht. Und wer war der Dritte, mit dem diese Beiden gebechert und gesungen hatten im Dom Offizerov? Emil Knoop war’s, der Mann mit dem Goldenen Herzen (»nach Gewicht, Jurij, nach Gewicht!«), der brachte das Antibiotikum Penicillin an aus Brüssel und Bremerhaven. Hier handelte einer nach der Pflicht, die ihm ohnehin Hilfe und Schweigen gebot; einer diplomatisch, denn der Genosse Jenudkidse hörte unter Stalins außenpolitischem Gras einen ostdeutschen Staat heranwachsen, und wenn die Sowjetische Militär-Administration sich Schritt für Schritt aus dem Rathaus von Gneez verdrücken mußte, kam ihm ein großherziger Abschied eher recht. Der Dritte, Emil, für bloß ein Flüchtlingsmädchen machte er sich kein Gewissen aus den Gesetzen und Vorschriften, die solche Importe beschrieben als eine Verseuchung der antifaschistischen deutschen Volksbewegung durch die Drogen des angloamerikanischen Imperialismus (wenngleich das Penicillin im Süden der Sowjetzone in einer VolksEigenen Pharmafirma nachgebaut wurde für den Gebrauch höherer Kader von Partei und Kaderschutz). Von Knoop war etwas zu lernen; leider Strafbares.
    Die ganzen Sommerferien 1949 lag Anita zu Bett, anfangs wegen der vier Injektionen an bloß vier Tagen hinter einander, dann nach Belieben des einweisenden Arztes wegen Unterernährung; wir reisten auf dem Wasser, reisten im Schwarzwald, kamen vorbei unter Anitas Fenstern und vergaßen sie. Vor Anitas Liegestatt zur Besuchszeit erschienen die Zwillinge von Jerichow, die Kommandanten Wendennych, Konfekt zu überreichen und einen Band Gedichte von Alexandr Blok. Mit Gefolge trat auf das dreifache J, brachte rote Nelken und glaubte die Beschriftung »Zystitis« auf Anitas Fiebertafel ähnlich taktvoll zu verstehen wie die Schüler Pagenkopf/Cresspahl, die von ihrer F. D. J.-Grundeinheit zu Beginn des neuen Schuljahrs zu einem Vorsprechen bei Anita veranlaßt waren – nein, das hieß delegiert. Sie sah uns ungläubig an, mit großen Augen ohne uns stracks zu erkennen; so unausweichlich war sie vorbereitet, allein zu sein und zu bleiben.
    Hat dir Beten geholfen, Anita?
    Es hat geholfen, moshno.
    Worüber hast du nachgedacht, Anita?
    Gerätselt hab ich an drei Jungen in der Montur der Roten Armee, von denen einer Gonokokken trug. Brennen beim Wasserlassen, eitriger Ausfluß aus der Harnröhre, das merkt ein Mann auch im Krieg. Daß er gewußt hat, was er mir hat gestiftet.
    Und was hast du gelesen, Anita?
    Was man so studiert mit sechzehn Jahren, wenn dir eröffnet ist eine Pyosalpinx, heilbar, und Sterilität, auf ewig. Daß du in deinem Leben keine Kinder kriegen kannst. Nado
    wijrwatj
       radostj
          u grjaduščich dnej.
    W etoj shisni
         pomeretj
             ne trudno.
    Allein blieb Anita, als sie sich abgefunden hatte mit der Aussicht, in östlicher Richtung werde sie allenfalls den Fluß Havel erreichen, nie den Njemen. Ein Schuljahr lang blieb sie für sich im Klassenraum der Zehn A Zwei, wenn wir in sportlichen Übungen unterwiesen wurden. Wenn sie doch Aggie Brüshaver getraut hätte. Aber die sah sie an für jemand, die ist von christlicher Ehe wegen gehalten, ihrem Mann, einem Mann, alles zu sagen.
    »Anita die Rote«, das blieb ihr. Denn nach wie vor ging sie dem Obersten Jenudkidse helfen mit der deutschen Sprache, nunmehr im Barbara-Viertel, hinter dem übermannshohen grünen Zaun. Was sollten wir denken als sie halte es mit der Roten Armee? Die Zweite Vorsitzende der F. D. J.-Gruppe Zehn A Zwei hatte ihre liebe Not, wenigstens drei Nummern der Jungen Welt an den Mitschüler zu bringen; Anita benutzte für den Unterricht in Gegenwartskunde die Krasnaja Swjesda, zwar aus einem geteilten Abonnement mit dem Dreifachen J. Ihre geschwätzige Tante beklagte sich über Anita, weil sie neuerdings ein Zimmer in der Weidlingschen Wohnung hinter sich abschließe, beim Weggehen wie beim Zuhausesein, bloß weil sie von den gesund tobenden Knaben Gernot und Otfried einen Schaden für ihre Musikmaschine befürchte, und was hörte Anita

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