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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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eine Grunddiät ausgedacht für Alex’ monatliches Päckchen; immer noch einmal fiel ihr etwas Versäumtes ein, Heftpflaster etwa. – So ein Junge läuft und tobt, der stößt sich doch! sagte sie entrüstet, böse auf die eigene Vergeßlichkeit.
    Und, wie bei Anita unausbleiblich, eine Bibel mit Illustrationen für Kinder. Weil Alex den Umgang mit Gedrucktem lernte an Texten aus dem Volk und Wissen V. E. V.:
    Heute sind die Jungen Pioniere alle auf der Wiese.
    Alle tragen das blaue Tuch.
    »Seid bereit!« rufen die einen.
    »Immer bereit!« rufen die anderen.
    Für die fotografischen Abbildungen von Alex besaß sie einen gediegenen Wechselrahmen. 1956 ging es ihr weiterhin beengt, gerade daß ihr Geld reichte für einen Wechsel in die Nähe der Universität; aufwendiges Vergrößern der jerichower Schnappschüsse, es mußte doch sein. Einmal vermißte ich ein neueres Bild. Anita wand sich. Es zeigte Alex, wie er den Gruß der Jungen Pioniere erstattet, mit dem bekannten Dreieckstuch um den Hals, Hand an der Stirn, Fläche nach oben, Finger himmelwärts gekrallt, die Unterdrückten in fünf Erdteilen seines Beistandes versichernd. Was mußte ich bitten, das sehen zu dürfen!
    Als Jakob zu Tode gekommen und begraben war, betrug Anita sich harsch zu mir, die Patin. Sie meinte, eine Anwesenheit auf dem Friedhof wäre mir nützlich gewesen. Da sie von Westberlin nach Düsseldorf über eine offene Telefonleitung sprach, gab sie sich ungefähr zu verstehen. Als ob eine Doktorandin der Slawistik Schleichwege wüßte nach Mecklenburg.
    – Auch in der Roten Armee gibt es Faktionen: sagte sie.
    Anita mit Anhang in einer sowjetischen Militärmission? In einer Botschaft? Sie lud keine Fragen ein.
    1956, Anita hatte da schon einen Paß der französischen Republik, besann sie sich endlich: Ein Junge benötigt ein Taschenmesser mit zweiunddreißig Instrumenten.
    Was ein Junge von acht Jahren weiterhin gebrauchen kann, ist ein Fahrrad. Da traf es sich gut, daß 1957 die Geschenkdienst G. m. b. H. erfunden war, die Genex mit Sitz in der Schweiz. Zahlung in westlichen Währungen, Lieferung in ostdeutscher Ware, aber pünktlich, nach einem Monat allbereits. Sogar durfte Anita bestimmen, ob Alex auf blau oder silbern lackiertem Gestell an die Ostsee fuhr, ob mit oder ohne Gangschaltung. (Sie vermied es, ihn zu versorgen mit eindeutig westlichen Geräten. Alex sollte auskommen ohne den Neid anderer Kinder, ohne Vermahnung durch Lehrerpersönlichkeiten.)
    Missionarische Anwandlungen versagte sie sich. Mühsam verzieh sie ihrer Mitschülerin Cresspahl den Austritt aus der evangelischen Kirche, kaum daß sie eine Lohnarbeit gefunden hatte »im Westen«; noch das Argument, die Kirche im Kapitalismus lebe ohne Anfechtung, einer Steuer unbedürftig. Anita erwartete zuverlässig, das Kind Marie werde christlich getauft; wenn sie enttäuscht war und betrübt, so unseretwegen.
    1959 war Alex Brüshaver schulsicher. Als Prämie in einem Aufsatzwettbewerb gewann er ein Spielzeug, einen mit Batterie betriebenen Panzer, in Kampffarbe oliv, der konnte gleichzeitig rollen auf seinen Raupenbändern und die Kanone schwenken auf den Klassenfeind. Auf daß Alex’ Wehrwille gehärtet werde. Man sollte denken, ein Kind hängt an solcher Kunstmaschine. Anita erkundigte sich, in ihrem Unglauben. Zunächst sandte er ihr eine Postkarte, auf deren einer Seite der ostdeutsche Sachwalter abgebildet war. Auf der anderen Seite hatte er ihr etwas gewidmet.
    Vom Frieden träumen bringt nichts ein,
    Wer schützt den jungen Staat?
    Die Taube muß gepanzert sein,
    Darum bin ich Soldat.
    In der nächsten Sendung kam das Ding selber, bewickelt mit Geschenkpapier und olivenen Bändern. Noch Jahre stand Alex schultags am Morgen zur Fahnenhissung und Spruchverlesung samt Aufbaulied.
    1960 wurde Frau Brüshaver aus dem Pastorat von Jerichow gekündigt, bekam aber zwei Zimmer am Rosengarten von Gneez. Anita nahm sich zwei Wochen, mit Farben nach Mecklenburg zu reisen, beim Einrichten der Witwenwohnung zu helfen, um vierzehn Tage mit Alex zu verbringen. (Findet Anita eine gesetzliche Vorschrift ohne Vernunft, benutzt sie ihre Umwege bedenkenlos. Anarchismus? Eigensinn? Mutwille?)
    Vor unserem Umzug nach New York war ein Urlaub, zu dem lud Anita uns nach Westberlin. Aus eigennützigen Gründen, darauf bestand sie. Denn nachdem sie nun im dritten Jahr zugange war mit einem Emigranten aus karelischen Landen, wünschte der schriftlich, daß sie zu einander gehörten, und

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