Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
fühlte er sich von einer förmlichen Dienstverpflichtung. Am ersten Tage ging es in seinem Wahllokal wie in einer Schulstube. Er sah den Leuten entgegen wie Prüflingen, begrüßte Ungeschickte, mit ermunternden Lippenbewegungen, sprach gefällig Platt. Bei ihm sollte es so zugehen, daß die Wähler von Gneez vor die Urne traten aus freien Stücken, ihm von Person bekannt oder mit gültigem Ausweis, und die Stadtpolizei hatte kein anderes Recht, als ortsfremde Personen auf die Straße zu setzen. Kliefoth legte den Kopf in den Nacken für jeden, der vor seinen Tisch trat, statt bloß die Augen zu erheben; eine Anstrengung, die gegen Abend immer langsamer wurde. Wenn er streng aussah, so weil er das Rauchen entbehrte; der Würde des Vorgangs zuliebe. Er stellte einen Beamten dar, der verwaltet einen Auftrag, den hat die Regierung ihm auferlegt.
Am 16. vormittags kam aus Schwerin die Belehrung, als »Blitzfernschreiben – sofort auf den Tisch«, gezeichnet Warnke, Innenminister. Danach hatte Kliefoth auch solche Stimmzettel als gültig zu bestimmen, die leer in der Urne aufgefunden wurden; genügen sollte das groß vorgedruckte JA . War ein Zettel beschrieben, reichte er aus als eine von den gewünschten Stimmen, ausgenommen der Text gab eine »demokratisch-feindliche« Gesinnung zu erkennen; was immer das war. Mit solchen Zählkünsten kam der Frieden samt der Einheitsliste in Mecklenburg auf so viel Einverständnis wie 68,4 vom Hundert sind, 888 395 Leute, aber 410 838 Leute hatten sich mit ihren Zetteln so angestellt, ihr NEIN vertrug keine Verwandlung. Im Bericht der Wahlkommission von Gneez fehlte die Signatur des Vorstands; Kliefoth hatte sich beurlaubt, aus »philologischen Gründen«. Für die historischen Akten mußte er die umschreiben zu einer »Anwandlung von gesundheitlicher Schwäche«; wie konnte dem kämpferischen und parteiischen Minister W. ein Beamter gefallen, der nimmt sich fast einen ganzen Montag frei, aus eigenem Gutdünken und Ungehorsam?
Entlassen wegen seiner Art von Vergangenheit: meinte Lise Wollenberg, in ihrer auffälligen Sucht nach Schadenfreude. Aber als die Sowjets in ihrem Befehl Nr. 35 die »Entnazifizierung« für abgeschlossen erklärten, mit Wirkung zum 10. April 1948 in der S. B. Z., hatte Kliefoth kein Mal vor einer Spruchkammer seinen Lebenslauf ausdeuten müssen (anders als Heinz Wollenberg); Kliefoth war der Hitlerpartei von Berlin schon 1932 ausgewichen in die ländlichen Gefilde von Jerichow, hatte seit Anfang des Krieges vor ihr sich verborgen gehalten in der Wehrmacht. Freilich, die Rote Armee wollte von ihm schriftlich haben, was angerichtet worden war unter seiner Verantwortung und Hitlers Oberbefehl, als Hauptmann im Stab des II . Armeekorps im Kessel von Demjansk bis zu seinem letzten Rang als Oberstleutnant; es muß der sowjetischen Militärverwaltung eingeleuchtet haben. Denn 1945 beließen sie ihn auf freiem Fuß in allen Ehren, 1948 im Mai empfahlen sie ihn ihrer Deutschen Verwaltung des Inneren als Taktiklehrer für die Fachschulen der Deutschen Volkspolizei, einer Neugründung. Mit zwei Gehältern, dem zivilen und einem militärischen, mit doppelter Pension winkte ihm die D. V. I.; Kliefoth entschuldigte sich mit ärztlichem Attest, den acht Zähnen, deren er ermangele zu den zweiunddreißig, wie sie nun einmal auf den Tisch eines Heeres gehören. Dabei hatten sie ihm obendrein eine Nachzahlung des Wehrmachtsoldes geboten rückwirkend ab Mai 1945. Wer so reichlichem Großmut sich versagt, dem darf man ein wenig böse sein.
Auch hieß es, er habe die Zügel schleifen lassen; wir wissen, wer ihm die aus den Händen nahm. Denn dieser Herbst 1949 war eine Jahreszeit der Versammlungen in der Fritz Reuter-Oberschule. Aus dem Dritten Volkskongreß (mit dem Kliefoth in der Tat angeeckt war) hatte sich ein Deutscher Volksrat bestimmt, aus diesem eine Volkskammer, die erklärte am 7. Oktober das Gebiet der sowjetischen Besatzungszone zu einer Deutschen Demokratischen Republik und die darin wohnhaften Leute zu Angehörigen dieses Staates, mit Verfassung, Regierung und vorläufig dem herkömmlichen Adler auf Schwarz/Rot/Gold; was alles zu begehen war mit Festakten in der Aula, zwei Unterrichtsstunden lang oder einen Vormittag. Kliefoth bat jeweils einen »der jüngeren Herren« um die Gefälligkeit, dem jugendlichen Auditorium vor Augen zu führen, wie diese Vorgänge zwischen Mecklenburg und Sachsen sich ausnähmen inmitten anderer Zustände auf der Welt,
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