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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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dieselben förderten oder behinderten, vorzüglich mit Augenmerk auf China; Kliefoth schien zu schlafen hinter dem rot behängten Tisch auf dem Podium, den schmalen Schädel mit der weißen Bürste von Haar vorgeneigt, die Hand am Kinn; jedoch rechnete er sich aus, was an Unterrichtspensum verloren ging in der Zeit solcher Aufführungen, und sah den Nachmittag schwinden in Lehrerkonferenzen über Reparaturen am Schulplan, für den er der mecklenburgischen Verwaltung von Volksbildung einzustehen hatte in Person. Wenn er dann aufstand, die Zusammenkunft abzukündigen, hielt er sich krumm in den Schultern, die Krallen der hinter ihm aufgemalten Picasso-Taube im Genick, und schien belastet von Sorgen im Amt; und hatte doch einmal sprechen können im Ton zuversichtlichen Befehlens, mit Vorfreude auf die Rückkehr zur Arbeit. – In diesem Sinne: sagte Kliefoth ergeben; gewiß klang er ermüdet.
    Kliefoth sei über die neue Nationalhymne gefallen: verkünden solche wie Frau Lindsetter, bloß damit sie eines musikalischen Verstandes sich berühmen dürfen. Denn wessen ein Staat außerdem bedarf, das wurde im November in den Stunden-Plan der Fritz Reuter-Oberschule eingebunden, das Lied. Im Zweivierteltakt, schlicht symmetrischer Dreiteiligkeit, begleitete es den gereimten Vorsatz eines mehrfachen Subjektes, eines Wir, aus Ruinen auferstanden zu sein, der Zukunft sich zuzuwenden und einem einzelnen Subjekte, »dir«, »Deutschland einig Vaterland«, zum Guten zu dienen, »daß« (final) die Sonne über diesem Lande scheine »schön wie nie«. Das gutmütig pompöse Stück wurde den Klassen einzeln eingeübt von Joachim Buck (Julie Westphal war auswärts, in Güstrow für den Beruf eines Neuen Lehrers zu lernen). Der »schöne Joachim«, glänzende Tonsur, wallender Haarwulst, beschwörenden Lippenspiels, war erfahren in der Herrichtung von staatlichen Anlässen, bedankt für die Umrahmung amtlicher Kundgebungen in der Weimarer Republik wie unter dem Reichsstatthalter Hildebrandt (siehe Mecklenburgische Monatshefte, 1926-1938); er gab auch dieser Obrigkeit sein jeweils Letztes, warf unsichtbare Gewichte in den Handflächen von tief unten gegen die Kassettendecke der Aula, beschwor seine minderjährigen Singscharen mit ältlich rudernden Armen, in denen er manchmal einen Medizinball zu pressen schien, und knickte pünktlich im Nacken ein, wenn die letzte Note verklang; dies die Vorführung für die unteren Klassen. Den Zwölften, den Abiturienten glaubte er wissenschaftliche Untermaurung schuldig zu sein, »musikalische Ideengeschichte«, und begann die Unterweisung in der staatlichen Melodie mit einem Übungswalzer aus der »Theoretisch-praktischen Klavierschule« des Musikpädagogen Karl Zuschneid (1854-1926), einem Ding im Dreivierteltakt, das sich anhörte wie eine Vorlage zu der allerdings weniger hopsigen Hymne. Umfänglich glänzende Augen wandte Joachim auf seine Schüler, daß sie wohl seiner blind gleitenden Finger an langem Arm inne würden. Mit einer Variation von Zuschneids Takt glitt er in eine flapsige Tonfolge, nach wie vor dem Lehrstoff verwandt, in Abstammung wie Familienähnlichkeit, und machte sie kenntlich als Song in einem Film von 1936, Wasser für Canitoga, da sangen Hans Albers und René Deltgen nach Noten von Peter Kreuder (1905):
    Good-bye, Johnny
(Auferstanden)
Good-bye, Johnny,
(aus Ruinen)
schön war’s mit uns zwein.
(Und der Zukunft zugewandt.)
Aber leider,
(Laß uns dir)
aber leider
(zum Guten dienen)
kann es nun nicht mehr sein (etc.);
    der schöne Joachim in seiner Unschuld, der eine Zusammenstellung von Tönen bewahrt und erkennt, mag er sie beim Studium beherzigt oder vor dreizehn Jahren in den Renaissance-Lichtspielen von Gneez vernommen haben. Jedoch die Kriminalpolizei/Dezernat D (Nachfolger von K 5) hielt ihm schon im Februar vor, er habe den Komponisten der neuesten Fassung einer Anleihe, eines Plagiats, eines Diebstahls bezichtigt; jedoch bot die Untersuchungshaft einen Briefwechsel weder mit Peter Kreuder (Argentinien) noch mit Hanns Eisler (Berlin/D. D. R.). Da der schöne Joachim eine passive Kenntnis der Verfassung, aus der Lektüre von Zeugnissen, eingestehen wollte, redete er sich unter den Artikel 6, »Boykotthetze« und Verwandtes, so daß Buck erst wieder 1952 auf die Beine kam, in Lüneburg, zwar enttäuscht von der dortigen Musikwissenschaft, die die Herkunft der ostdeutschen Hymne abtat als eine Bagatelle denn als eine Nachricht, jedoch bald aufs Neue umgeben von einer

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