Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
anhänglichen Gemeinde, wegen seiner weltlichen Aufführungen von »Oh Ewigkeit, du Donnerwort« oder »Die Himmel rühmen«; ein Verlust für Gneez, hört man auf Frau Lindsetter. Und Kliefoth? Rektor Kliefoth bekam einen dienstlichen Verweis. Musikalischer Bildung fast bar, hatte er in förmlicher Lehrerkonferenz als ein Kuriosum beschmunzelt, was durch den neu gegründeten Staatssicherheitsdienst entlarvt war als ein Anschlag auf eine demokratische Einrichtung. – Wat för dumm Tüch: erwiderte Kliefoth in seiner gemäßigten Art auf die Anklage des Kreisschulrats, er hätte den schönen Joachim auf der Stelle zur Anzeige bringen müssen. Die Herren waren dereinst, 1944, verbündet gewesen, sie hatten akademische Semester gemeinsam; es wurde da eichnes Gestühl heftig bewegt und ausgerufen: Principiis obsta! Kliefoth hatte es mehr mit Juvenal und schrie: Maxima debetur puero reverentia! worunter er außer der Zwölften Klasse alle Schüler begriff, denen er Aufsicht schuldig war. Sein Widersacher wurde noch früher abgesetzt als Kliefoth; für den Vermerk in Kliefoths Akte war er gut gewesen.
Sein berufliches Genick brach Kliefoth sich an dem schulischen Gegenstand Jossif W. Stalin (geb. 1879): heißt es des weiteren; andere meinen für gewiß: an Weihnachten 1949.
1949 minus 70 ergab das biblische, das magische Alter von siebzig Jahren für den fernen Generalissimus Stalin, und wie das junge Staatsvolk der ostdeutschen Republik dem »genialen Steuermann der Sowjetunion«, »dem besten Freunde des deutschen Volkes« an die dreißig Güterwagen voll Geschenke auf die verbliebenen Schienen brachte (zwar beschämt über die Verspätung des Planetariums für Stalins eigene Stadt), so verrichteten auch die Schüler der Reuter-Oberschule von Gneez/Meckl. ihre Opfer unter dem Loerbrocks-Portrait des Jubilars (im Festkomitee: Sieboldt und Gollantz; verantwortlich für den Beitrag der Zehn A Zwei: Lockenvitz). Julie Westphal, von starrer Innigkeit beengt in den Augenhöhlen, die Stirn mit steinernen Fransen verhängt, bebenden Busens in männlich geschnittenem Jackett, die Olsch auf der schlimmen Seite der Fünfzig hatte in Güstrow sich verjüngen lassen in künstlerischer Leitung; unter ihrer Stabführung trug ein weiblicher Chor aus Angehörigen der Neunten und Zehnten das Lieblingslied des Geburtstagskindes vor, welches sehnsüchtige Verlangen nach einer verlorenen Suliko, von sechzehnjährigen Mädchenstimmen intoniert, betrübende Stimmung zu verbreiten geeignet war; nach Julies Choreographie traten Schüler der Elften, nach Vorschrift in blauen Hemden und Blusen, gemessen vor und zurück, Fahnen erhebend und schwenkend; in von Julie vorgesprochnem Tempo und Akzent rezitierten die künftigen Abiturienten im Chor, was das mehr jugendliche Auditorium respondierte als Gelöbnis an den Baumeister des Sozialismus, den Lenin unserer Tage, den Lehrer der Wachsamkeit gegenüber den Agenten der Volksfeinde und was für Personalbeschreibungen noch Dicken Sieboldt der Tagespresse von Stalins Partei in Deutschland entnommen hatte; als Gast Herr Domkantor J. Buck am Flügel, eine Empfindung P. Tschaikowskijs übermittelnd. Streng beschwingt der schöne Joachim, weder mit Ahnung noch Warnung versehen. Zum Schluß die Neue Hymne. Herr Direktor Kliefoth war anwesend als Patron der Veranstaltung, mit der graugrünen Fliegenschleife im abgeschabten Kragen wie gewohnt, in seinem werktäglichen, weitläufiger hängenden Knickerbocker-Anzug; seine sparsamen Lippen bildeten trockenes Kauen ab und die Bedrängnis eines Menschen, der versagt sich von Respekt wegen das Rauchen. Auftrag ausgeführt.
Das war der 21. Dezember, und für den 24. war der Zehn A Zwei von Kliefoth ein anderes Festprogramm genehmigt. Das verdankten wir Anita. Dies fremde Kind, aus »Ostpreußen«, es war unzufrieden gewesen mit unseren Auskünften über den Menschen, nach dem die Schule benamst war; es hatte sich von dessen Schriften beraten lassen in den Redensarten, mit denen Kinder einander abfertigen in Mecklenburg; auf Anitas schüchterne Erkundigung hin übten wir die Beschreibung des Weihnachtsfestes im siebenten Kapitel von Fritz Reuters »Ut mine Stromtid« und führten es unseren Eltern auf als szenische Erzählung und Darstellung. Was an Eltern zu haben war. Nach der Üblichkeit hätte Anita für ihren Vorschlag büßen müssen und in Person auf die Bühne steigen; wir waren geniert genug und bestimmten leider die Schülerin Cresspahl für die Rolle
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