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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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Bitte um die physikalische Aufnahme von Süd-China; sah sie aber an, als sei ihr beflissener Gruß eine Überraschung. Aufgeweckte, heitere Augen in steil aufsteigenden Innenhöhlen, dick mit Falten umlegt; ein euliger Blick. Und weil Kliefoth verschwand mitten im Schuljahr, ohne Auftritt in der Aula mit Danksagung und Verabschiedung, war es einmal zu spät für einen Fackelzug, ein ander Mal galt solch Unternehmen für inopportun, eine Übersetzung für ein mehr einfaches Wort. Weil es doch neunzehn Kilometer gewesen wären für seine Schüler, von Gneez bis Jerichow, wo Kliefoth sein vorzeitiges Altenteil verbrachte, allein mit den Herren Juvenal und Cicero und Seneca. Auch was erzählt wurde von seinen ausgiebigen Pensionsbezügen, es beruhigt ein sechzehnjähriges Gewissen. Aber die Schülerin Cresspahl nahm sich in acht in Jerichow, ihrer eigenen Stadt! und hütete sich vor dem Steg zu den Kleingärten, wo Kliefoth dreißig Ruten Land bebaute mit Kartoffeln und Tomaten und Zwiebeln und Mohrrüben, wie er das gelernt hatte als Kind in Malchow am See. Als ob sie zweifelte, er werde ihr die Hände mit Johannisbeeren füllen.
    Friday July 26, 1968
    Wenn ein tschechischer General anregt, es möge der Oberbefehl über die Truppen des Warschauer Paktes auch einmal an einen anderen Staat gehen als den sowjetischen, schnaubt sich Moskau und verklagt ihn wegen Verrats militärischer Geheimnisse. Das Präsidium der K. P. in der Č. S. S. R., Prag kriegt den Schnupfen, löst das Parteiamt des Generalleutnants Vaclav Prchlik auf und schickt ihn zurück zur Armee. Das sowjetische Kommando Luft kündigt »Übungen« an, Unternehmen »Himmelsschild«, ausgedehnt auf Gebiete nahe der tschechoslowakischen Grenze, und nun getrauen sich auch die polnischen Kommunisten, die tschechoslowakischen Brüder zu beschimpfen wegen eines Mangels an Kampfeswillen gegen die »Kräfte der Reaktion«, von denen sie bedroht seien. Dazu von Associated Press ein Foto, ein getarntes Fahrzeug der Sowjets auf ostdeutschem Boden, 90 Meter von der Grenze entfernt, bei Cinovec; ein halb erkennbares Rad scheint etwa so hoch wie die beiden Rotarmisten daneben.
    Ein Staatsanwalt in Frankfurt am Main hat Lebenslänglich beantragt für jenen Fritz von Hahn, wegen der 11 343 Juden aus dem bulgarisch besetzten Griechenland, die der nach Treblinka, wegen der zwanzigtausend Juden aus Saloniki, die er nach Auschwitz ins Gas schicken ließ. Nächsten Monat kriegt er das Urteil, vielleicht.
    Die Angestellte Cresspahl will heute einen Brief verfassen. Fünf Minuten vor neun tritt sie auf vor dem Bollwerksmöbel von Mrs. Lazar und probt das Lächeln mit ihr; sie möchte bis zum Abend durch sein mit der selbst auferlegten Pflicht. Bei offener Tür tut sie das, ohne die Vorsicht, das Farbband wegzuschalten und auf weißes Papier zu tippen, auf ein Kopierblatt darunter. With company equipment tut sie das, on company time. Mit einem Gerät der Firma, in der an die Firma vorverkauften Zeit; so unbedenklich ist sie nun. Denn wer immer zu Besuch kommt, Henri Gelliston oder sonst einer von den jungen Herren des Vizepräsidenten, er wird auf dem Blatt fremdsprachigen Text sehen, ohne Anschrift eines verbündeten Geschäftes, das mutet privat an.
    Anrede.
    Entfällt. Könnte Empfänger gefährden. Wegen des Namens, auch Spitznamens. Der gefälligen Adjektive hat er sich selber enterbt; obwohl wir gern weiterhin begännen mit: Dear -. Leider wäre es ziemlich verlogen.
    (Lieber) (J. B. streichen); das ist uns verwehrt. Es hieße ja auf deutsch, daß wir dich gern mögen und achten; auch ein Gleiches erwarten von dir. Und wer hat uns das unterschlagen? Du, indem du uns verleugnest. Eine Anrede bleibt uns im Halse stecken. Die Zunge im Hals, du erinnerst dich. Mit verhehlter Stimme sprechen wir zu dir. Nein, bloß in deine Richtung. Wir geben keine Adresse, weder Röver Tannen noch Christinenfeld noch Markkleeberg Ost (alle Ortsnamen vertauschen!). Wir werden uns hüten, deine bei der Volkspolizei notorische Meldekarte suchen zu helfen mit einer Nummer in einer Straße des Friedens / der D. S. F. oder einer eben solchen à la Stalin nachmals Dr. Frankfurter oder Marx und Engels. Anonyme aller Länder vereinigt euch!
    Wir sagen du zu dir, damit offen stehe, welche Anrede früher zwischen uns gewohnt war; wir reden mit dir wie mit einer unbekannten Katze, ganz gleich ob sie uns schimmernden Pelzes erscheint oder struppig vorkommt und der Pflege bedürftig, gegebenen Falls

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