Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
besprechen mit der Frau Direktor, auch einem Mitglied. Überlastet wie er war, durch seine Funktion, durch Vorbereitung aufs Abitur, konnte er solche Besprechungen nur in den späten Abendstunden erschwingen. Wurde mehrmals im Domhof beobachtet, zu nächtlicher Zeit.
– Ach du meine weite Heimat.
– In der Lehrerkonferenz hatten wir einen Verbündeten, den Lulatsch für Sport. Der zuverlässig zwinkerte, wenn er sein ehemaliges As mit ihrem Pius beim Schwimmen betraf (wir waren Das Paar). So kam uns zu Ohren, daß der Kollegin Selbich bei der Zeugnisberatung vorgeschlagen wurde, die für die Schülerin Cresspahl übliche Note (»gut«) im Betragen anzuheben in diesem Jahr. Sie soll etwas starr dagesessen haben. Tatsächlich hatte diese Schülerin im ganzen Schuljahr sich erwischen lassen bei keinem Verstoß gegen die Schulordnung und schloß die Zehnte Klasse ab mit der Note für Betragen: sehr gut.
– Und ein gebranntes Kind scheut das Feuer?
– Frau Selbich überging den hintersten Tisch in der rechten Ecke der Zehn A Zwei, wo sie konnte. Sie saß ja drei Wochen ab vor dem Blatt im Klassenbuch, das sie mit eigener Hand hatte ergänzen müssen an Stelle des ursprünglichen, in dem sie etwas Verwegenes eingetragen hatte, bevor ihr der Verstand kam, es vor den Augen der Klasse zu zerreißen.
– Ich hätte nun Mitleid mit ihr.
– Ich auch. Denn sie fing an, sich zu kämmen während des Unterrichts, sicherlich gegen ihren Willen, die Riepschlägers hatten ihre Bettina anders erzogen; sie hatte das vor zwei Jahren weder bei uns noch bei sich geduldet. Sie merkte den Griff zu ihrem breitzinkigen Kamm meistens erst, wenn sie ihn schon durch die Haare führte; ohne daß es denen sonderlich bekommen wäre.
– Du und dein Badeanzug und der Genosse Stalin.
– Der (der Badeanzug) hing nun bei Maler Loerbrocks, der unser Hausmeister geworden war. Sichtbarlich am Rande des Schulhofs. Die Cresspahl-Gedenkstätte. Bettina mag gewünscht haben, er läge auf dem Sims vor einem Fenster der Zehn A Zwei.
– Tröste sie!
– Gehorsam waren wir. Sie erklärte uns den Niedergang des Kapitalismus im allgemeinen (Bergarbeiterstreik in den U. S. A.) und im besonderen (jeder westdeutsche Berufstätige arbeitet ungefähr einen Monat lang für die Kosten der Militärbesatzung); auf Verlangen wiederholten wir es und verkniffen uns eine Erkundigung nach dem Verhältnis der sowjetischen Besatzungsabzüge pro Kopf der Berufstätigen in Ostdeutschland. Wohingegen der Aufstieg des Sozialismus, der Pakt zwischen Stalin und Mao, ein Entwicklungskredit von 330 Millionen Dollar. Wenn einer gern erfahren hätte, warum dergleichen in Dollar berechnet wird, er verbarg solch Begehren. Und Bettina kämmte sich. Saitschik sagte dem britischen Empire einen Verfall nach aus der Befreiung Indiens; im Ohr hatten wir noch das Geräusch der britischen Flugzeuge, die das belagerte Westberlin entsetzen halfen. Gabriel Manfras verbreitete sich über das sowjetische Geschenk der Arbeitsnormen, Menge der Arbeitseinheiten oder Zeitnorm; in einer still begeisterten Art schien es. Bettina Selbich pries die Wachsamkeit der sozialistischen Bataillone, Prozeß gegen zehn Priester in der Tschechoslowakei wegen Hochverrat und Spionage, April 1950 Strafen bis zu Lebenslänglich; Anita gedachte der Anstände, die Pastor Brüshaver erwuchsen aus Herbert Vicks Vermächtnis, gehorchte Bettinas Aufruf und leierte ihr das Gewünschte hin; die kämmte sich, den Kopf schräg, mit reißenden Bewegungen. Triumph der Weltfriedensbewegung! die Briten haben die Bombardierung von Helgoland unterbrechen müssen. Wir saßen vor ihr im heißen Junilicht, angeweht von den Düften der Lindenblüte; leicht unachtsam, weil in dieser Stunde bloß ein Benehmen zu erlernen war. Bei Bettina bekam der jüngere Seneca noch einmal recht: Non vitae, sed scholae discimus. Von einer Schülerin ist gewiß, daß sie nachsann über eine Zeit, in der wieder Reisen erlaubt wären in die Nähe von Helgoland. Immerhin, uns fragen nach unserem Gehorsam, unserer Geduld, das hatte diese Neulehrerin sich verbockt. Wir ihr was sagen, so doof. Wir betrugen uns höflich über die Hutschnur in ihren Stunden, mucksmäuschenstill war es bei ihr, und schläfrig. Da habe ich mir zum ersten Mal gewünscht, ich müßte nie Lehrerin werden wo sie ausgebildet und umgewandelt werden von einer Bettina Riepschläger zu einer B. Selbich. Denn ich wäre schon nach drei solchen Stunden ohne Widerspruch und Gespräch
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