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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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heulend aus der Klasse geschlichen. Allerdings, sie hielt durch. Nun wünsch dir was, Marie.
    – Daß du jede Nacht so lange schlafen dürftest wie du brauchst, und wünschest. Yours, truly.
    28. Juli, 1968 Sonntag Tag der South Ferry,
    obwohl dies der vorletzte Tag ist für das Redigieren an Karschs Buch. Ob wir wohl naseweis genug sind, die Druckfahnen ins Büro zu schmuggeln, getarnt als Arbeit? Es nimmt das Geschriebene überhand. Seit Juni J. B., seit bald einem Jahr die Tage, die der andere Jugendfreund und Genosse Schriftsteller aufschreiben will. Wie werden wir froh sein, wenn es ein Ende hat mit dem Unveröffentlichten.
    Die N. Y. Times bringt meinen Traum von gestern morgen.
    Und daß nunmehr die ostdeutschen Kommunisten verbreiten als einen Befund, es »mag ja das Leben in den Straßen von Prag ruhig und wie immer erscheinen in diesen Tagen«. Das nennen sie eine Fassade, als kennten sie sich aus hinter Fassaden, da wissen sie »eine schleichende Gegenrevolution«. »Die konterrevolutionären Taktiken, die in der Tschechoslowakei angewandt werden, sind raffinierter als sie es in Ungarn waren.« Und die Schläge gegen die Berichtigung des Landes, wie verfeinert werden sie ausfallen?
    Stürzt Bettina! so will es Marie. Aber die Leiterin und Lehrerin ist im Sommer 1950 lediglich gestolpert, wenn auch mehrmals; hätte fallen dürfen.
    Bemüht haben wir uns. Bettina als Klassenlehrerin der Zehn A Zwei, sie ließ Pius zwar unsere Kandidaten anmelden für die Fahrt zum Pfingsttreffen der F. D. J. in Berlin, sie bestand darauf, sie zu examinieren; vornehmlich wegen der nachgereichten Bedingung, sie müßten den westlichen Sektoren der Stadt sich fern halten. Pius ließ sie kurzerhand durch, dafür war er unser Erster Vorsitzender, auch Sohn des verdienten Genossen Pagenkopf in der Landeshauptstadt, wo er über die Abteilung Volksbildung einer schutzlosen Neulehrerin beliebig in die Suppe spucken konnte. Die zweite Vorsitzende, Cresspahl, ist es denn zu glauben, die schützte Schularbeiten vor. Eine väterliche Mahnung verschwieg sie. Denn zu Anfang Mai hatte es noch geheißen: »Die Freie Deutsche Jugend stürmt Berlin!« Heinrich Cresspahl besann sich auf die Belehrungen über die Welt, wie Gesine sie ihm mitbrachte aus der Neuen Schule. Danach hatte der Westen unbedenklich angefangen, wo die Republik von Weimar zu Bruch gegangen war; er erinnerte sich da an Tschakopolizisten, die mit Knüppeln herfielen über demonstrierende Leute, auch schossen auf sie. Er wünschte kein stürmendes Kind auf der Reise zu wissen, er mochte keine verprügelte Tochter zurückbekommen; er bat geradezu und bot ihr einen Ausflug nach »Berlin« auf eigene Faust für die Sommerferien. Auf den zu verzichten, Gesine behielt es sich vor; sie tat zuverlässig, als ergebe sie sich einer väterlichen Fürsorge; das gefallsüchtige Kind. (Und weil es Cresspahl noch immer tröstete, wenn jemand eigens auf ihn achtete und hörte.) Die Wahrheit verschwieg sie ihm, versteht sich: Es mochte doch sein, daß Jakob zu Pfingsten sich besann auf Sohnespflicht und einen Besuch abstattete in Cresspahls Haus. Darauf gedachte diese Gesine zu warten in einem Liegestuhl an der Milchbank hinterm Haus, und für Jakob zu tun, als lese sie für die Schule.
    Die Schülerin Cresspahl fiel aus. Gabriel Manfras erklärte in einer verhaltenen Art: Wir müssen überall zeigen, wie wir für den Frieden einstehen; ihm glaubte Bettina das (so wie wir). Lise wollte die Gelegenheit benutzen für Einkäufe in Westberlin, daraus machte sie eine Mördergrube weder vor uns noch vor Gabriel; befangen hörte der sich an, wie sie ihm das Seine nachsprach, ungefähr und munter. Anita war klug; sie redete sich heraus mit Dolmetscherpflichten beim Dreifachen J und Emil Knoop; tatsächlich wünschte sie sich Geld zu verdienen an Emils Rechenmaschine. Die Schülerin Matschinsky durfte sich hereingefallen glauben. Die wollte fahren, um auch über Pfingsten in der Nähe von Saitschik zu sein (Dagobert Haase träumte sich unter die Besucher der westberliner Autoausstellung, gab aber an mit einer Neugier auf die Neubauten im »demokratischen« Sektor); nun druckste Eva ungeschickt. Dieter Lockenvitz setzte einen feinen Keil auf Saitschiks groben und sprach von der relativen Eigenständigkeit des Überbaus, also dem Ausdruck nationaler Formen in der neuberliner Architektur. Da er Ernst aufbrachte, überdies zitierte aus dem Werke J. W. Stalins über die marxistische

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