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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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kam zum nächsten Tag mit Gegenwartskunde bei Selbich in einem blauen F. D. J.-Hemd.
    – Mit schwarzem Rock, wenn auch in privaten Schuhen. Lise ging es bald leicht vom Mund, daß die Unternehmer im kapitalistischen Westdeutschland zittern beim Anblick der Freiheiten, die die Arbeiter sich erworben haben in der Deutschen Demokratischen Republik und dereinst mitbringen werden in westlicher Richtung.
    – Kliefoth hat dergleichen auch voraussagen müssen.
    – Ein Julius Kliefoth spricht, wie ihm der Schnabel steht. Der hatte sich solche Erkenntnistherapie übersetzt, als müsse der Lehrer den Kindern an die Hand geben, was denn vorhanden ist in der Gegenwart. Wenn Österreich seinen Friedensvertrag bekommen sollte ganz für sich allein, oder Indonesien eine Unabhängigkeit, hielt er uns in dem einen Fall an zu Versuchen in Wirtschaftsgeographie und erwartete im anderen mindestens Angaben zur Kopfzahl der Bevölkerung. Daß der bulgarische Politiker Traicho Kostoff sich bekannte zu dem Vorhaben, Dimitrow zu ermorden und sein Land mit Jugoslawien zu verschwistern, dann beides abstritt und dennoch hingerichtet wurde im Dezember 1949, bei Kliefoth kam das als Meldung. Er veranstaltete Pressekonferenzen mit uns; bei ihm durften wir fragen wie die Korrespondenten: Trifft es zu, daß …? (England China staatsrechtlich anerkannt hat? Unzählige Male hätten wir ihn reinlegen können; wir hätten uns schon gefürchtet vor seinem Erstaunen, den abschmeckend verzogenen Lippen. Mit dem hatten wir einen Vertrag.) Vom Prinzip der Zeitung kam er auf jene, die er sich hatte halten dürfen bis Anfang des Krieges, jeweils eine ein Vierteljahr lang aus den französischen Departements und den englischen Counties nacheinander. Wie nahrhaft solche Übung sei für die Beweglichkeit in der Fremdsprache, für ein Bewußtsein von der Gegenwart. (Vor ihm saßen Kinder und ahnten, was er entbehrte, und hatten erfahren, daß auf den Besitz einer westdeutschen Zeitung Verweis von der Schule stand, auf Vorzeigen Gefängnis.) Und wenn Saitschik darauf bestand, ein ausländisches Wort für den Düsenjäger zu erfahren, so schrieb Dr. Kliefoth an seine akademischen Freunde in St. Andrews oder Birmingham; jet erläuterte er uns nach Vermögen als Düse und technisch, fighter lernten wir bei ihm verstehen als Kampfflugzeug, als eine Waffe, die bereit stand. Wir hörten den Stabsoffizier, der an der Ostfront mit Flugzeugen bekannt geworden war, wenn er hinzusetzte: Scheußliches Ding das.
    – Glaubte Bettina, was sie aufgesagt haben wollte in Gegenwartskunde?
    – Das will ich ihr wünschen. Denn wenn sie auch noch gezweifelt hat, in was für Schuhen ist sie gelaufen! Wenn ihr das auferlegt war, hat sie in unserem Schweigen das spöttische Bedauern gespürt für Dieter Lockenvitz, wenn der vorn in der Ecke stand am Kartenständer und Erfreuliches vortragen sollte zum Niedergang des westdeutschen Wirtschaftssystems an mehr als zwei Millionen Arbeitslosen. Er wand sich, er versetzte die Füße, er versuchte sich am Kartenständer festzuhalten, und Bettina rezensierte: Der Gedanke ist an sich richtig, bloß du bleibst an ihm hängen, wendest ihn hin und her, als ob du einen Ball von allen Seiten betrachten wolltest!
    – Sieh an. Sie wirbt.
    – Das war noch mal ein Restchen Ansicht von der früheren Bettina, die einen nahezu gleichaltrigen Jungen überreden will: Wir passen doch zu einander, wir zwei beide werden uns doch einigen … Nur war Bettina ein bißchen blind geworden. Hatte keine Augen dafür, daß der Schüler womöglich sich abquälte mit der Nachricht vom 1. Januar, in dem untergehenden Gelände seien die Lebensmittelkarten abgeschafft worden, auch weil seine Blicke jene zwei in der Südostecke des Klassenraums vermieden, denn mit denen hatte er erst neulich verhandelt, ob der vielgerühmte Betriebskollektivvertrag vom Mai 1950 mit seinen Verpflichtungen auf eine Planung von oben her ein Arbeitsrecht recht eigentlich verfehle und eine Fischausnehmerin beim V. E. B. »Fischkonserve« wohl ein individuelles Eigentum an der Fabrik zu begreifen imstande sei, oder doch wenigstens an der Arbeit. Bettina hätte auffallen dürfen, daß der Schüler Lockenvitz im Sprechen stolperte über das, was er beim Denken bewegte.
    – Und daß ihr alle gelogen habt wie ein amerikanischer Präsident, das war eine Kleinigkeit.
    – Seit wann ist die Schule ein Institut, dem wir mehr anvertrauen als den vorgeschriebenen Lehrstoff? Auch bei deiner Sister

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