Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Sprachwissenschaft, was konnte die Selbich ihm tun? (Nie in Berlin gewesen: dachten wir.) Eva bekam die Erlaubnis, womöglich verlangte es die Selbich danach, sich einzuschmeicheln bei der Zehn A Zwei. Wo die frühere Bettina gelächelt hätte und Evas Vorfreude erfrischt, sagte die von heute wegwerfend, verächtlich: Na ja. Du hast eben kein Bewußtsein!
(Solche Sprüche, bewußtlose Schüler in der Zehn A Zwei, wurden uns inzwischen fast neidisch abgefragt von jenen, die eines pädagogischen Umgangs mit der Selbich entbehrten. Sogar Julie Westphal, eine gesetzte Person doch, wollte immer gern noch einmal erzählt haben, wie die junge Kollegin und Leiterin präsidiert hat auf unserem nach oben verlängerten Lehrertisch.)
Pius fuhr mit mehr als der vorgeschriebenen Ausrüstung (Blauhemd, Waschzeug, Kampfesmut). (Er fuhr auf Beschluß der Arbeitsgemeinschaft Pagenkopf/Cresspahl.) Dazu sprach Gesine vor bei Horst Stellmann in der Stalinstraße von Jerichow, den ersuchte sie um eine »fixe« Kamera. – Holzauge: sagte Stellmann, und zog mit dem Zeigefinger die Haut unter seinem linken Auge etwas herunter. – Sei wachsam: entgegnete Gesine; nachsichtig gegen das Spielbedürfnis einer erwachsenen Person. Stellmann grub aus seiner hintersten Lade eine Leica, recht bewegt davon, wie gefällig er Cresspahls Tochter sich zu erweisen bereit war. Die aber wünschte ein weniger auffälliges Stück, das sollte die neu eingeführten Gepäckkontrollen bei Nauen oder Oranienburg passieren dürfen ohne Verdacht auf Schwarzhandel mit Westberlin. Endlich rückte Horst einen Balgapparat heraus, der ließ sich bescheiden an, dreihundert Mark Kaution statt zweitausend, war rasch ans Auge zu führen und weggesteckt im Nu. Was hat er sich verwundert, als er Cresspahls Tochter über Pfingsten auf der Stadtstraße erblickte, weit ab von wachsamer Aufführung in Berlin.
Pius kam zurück am Dienstag nach Pfingsten und berichtete von Zugverspätungen, die nahmen sich aus wie eine Gleichgültigkeit der Eisenbahner gegenüber der Bewegung junger Menschenfracht zu Gunsten des Friedens. Unterbringung in einer Betriebsschule von Berlin-Heinersdorf auf Stroh, Schlägerei mit sächsischen Schülern wegen nächtlichen Diebstahls; fünf Stunden latschenden Marsches bis zu der Tribüne mit dem Sachwalter und dem Ersten von der F. D. J., Honecker hieß der, damals fast achtunddreißig Jahre alt, und hatte eine Übernahme Westberlins durch seinen Verein einst abgewogen gegen blutig geschlagene Köpfe seiner Jugendfreunde. Zum Ausgleich gab er etwas Unerhörtes bekannt, Kartoffelkäfer betreffend. Ärgerliches Betragen von seiten der Einwohner Berlins, so weil die Gäste im Blauhemd Freifahrt genossen auf städtischen Verkehrsmitteln. Saitschik und Eva hatten es geschafft zu den Messehallen am Funkturm. Dieter Lockenvitz machte sich auf zum »Kongreß junger Friedenskämpfer« am Ringbahnhof Landsberger Allee, Eröffnung durch den Dichter Stephan Hermlin; wollte danach sich verlaufen haben, blieb abwesend, unauffindbar. Pius wußte, worauf Gesine wartete, nölend erzählte er voran; das ging mitunter zu wie in einer necklustigen Ehe bei uns. Endlich gab sie ihre Würde billiger und fragte: Hast du sie?
Pius hatte sie, im Kasten. Die jugendliche und dennoch selbstbewußte Frau Direktor, die die Abordnung der Fritz Reuter-Oberschule aus Gneez anführt, wie wird er denn und sie aus den Augen verlieren! Das machte sie ihm leicht, weil sie wehrlos in Schreck verfiel angesichts des scheuen Ernstes, mit dem Dicken Sieboldt ihr auch in Berlin an die blaue Bluse rückte, als wolle er ihr und einer Öffentlichkeit zugleich seine Verehrung bekannt geben. Davon war sie benommen, wie unter einer Tarnkappe konnte Pius ihr nachgehen, bis er sie endlich betraf in der Schloßstraße, Berlin-Steglitz, amerikanischer Sektor, Westberlin. Vor einem Schuhgeschäft; war man noch ein junges Ding, war Bettina. Als sie Pius wahrnahm und die Kamera an seinem Auge, muß ihr aufgegangen sein mit Pein und Schmerzen: keinen einzigen Schüler aus Gneez konnte sie eines friedensverräterischen Abstechers nach Westberlin bezichtigen, solange einer von ihnen ein Foto besaß, das überführte die Jugendfreundin und Frau Direktor als Opfer der kapitalistischen Verführung auf der Zirkulationsebene. Weswegen sie unternahm, ihm die Knipsmaschine wegzunehmen. Aber Pius hatte harte Hände vom Turnen am Reck; auch befragte er sie vertraulich, ob sie das Ding verscheuern wolle gegen Westmark.
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