Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
beziehe von der Sowjetunion das Petroleum fast zur Gänze, vier Fünftel seiner Importe an Roheisen (Grenzübergang Chop/Cierna), 63 Prozent der synthetischen Gummis und 42 Prozent der Buntmetalle. Auch seien die sowjetischen Bedingungen für die Bezahlung günstiger als die der westlichen Wirtschaft, wo es ja abgehe nach Gunst und mit Unterschieden.
Außer wir gönnen der N. Y. Times unser geneigtes Ohr. Diese forsche Dame meint in ihrem hypnotischen Drang zur Forschung: für die französischen Kommunisten würde eine sowjetische Invasion der Tschechoslowakei zur Katastrophe. Sie beweist aber auch aus dem Reiseverbot, das die sowjetische Regierung ihren Journalisten für die Tschechoslowakei gestiftet hat, deren eigener Presserummel sei als Fälschung erwiesen. Und was, wenn die Sowjets ihre Reporter, wertvolle Kader doch, bewahren wollte vor einer Zukunft, da wird Besuchern in Prag das eine oder andere Haar gekrümmt?
Am ersten Schultag nach dem Pfingstausflug bekamen die Rückkehrer ihre Begrüßung; auch die zu Hause geblieben waren, um ein Liebesgedicht zu verfassen an den Genossen Stalin, an d BG oder ein Mädchen, das war ihnen beim Blick durch den löchrigen Zaun einer Stachelbeerhecke beim Sonnenbaden aufgefallen. Vielen entging das Willkommen zunächst. Gneez wie Jerichow waren so verklebt mit Plakaten, was sollte denn auffallen an Zetteln im Format DIN A 5, mit denen das Glas im Hauptportal der Fritz Reuter-Oberschule bepflastert war, auch Streifen davon an der Hauswand, in Blickhöhe. Abgebildet waren da Angehörige der Freien Deutschen Jugend in Formation, die Farbe Blau wurde bis zur Sättigung bekannt empfunden, dazu die Erkundigung an die F. D. J.-ler, wofür denn sie marschieren? Die erwünschte Auskunft war so unausweichlich vertraut, Pius hatte auf das Weiterlesen verzichtet, die Anschläge bequem vergessen bis zum Anfang der zweiten Stunde; Gesine desgleichen. Eine Gleichung mit zwei Unbekannten, mit drei, es ist eine Herausforderung ans jugendliche freie deutsche Gehirn und kann es zerstreut machen.
Mitten hinein in die mathematischen Übungen unter der Beratung von Frau Dr. Gollnow platzte Bettinas Stimme im Lautsprecher, heiser, verzagt, verzweifelt, in brüchiger Härte. Sämtliche Schüler haben ungeachtet aller Klingelzeichen in ihren Klassenräumen zu verbleiben. Für eine Aufsicht verantwortlich: die jeweils anwesende Lehrkraft.
Es wurde Abend, Dämmerung gegen Ende des Mai, ehe die letzten Schüler auf die Straße gelassen wurden. Die Kriminalpolizei (Dezernat D) begann die Vernehmungen in den Abiturklassen, so kam die Zehn A Zwei erst nach sechs Stunden an die Reihe. Anfangs hatte Frau Gollnow ordentlich ihren Unterricht zum Tagesziel geführt, danach mündliche Nachhilfe angeboten und schließlich erzählt, was sie Schnäcke nannte aus ihrem Leben. Wie es zuging an der Universität von Leipzig. Ihr Briefwechsel mit dem Schriftsteller Joachim de Catt, Hinterhand benutzte der als Pseudonym. Die Fenster standen weit offen; Luft war vorhanden in Fülle; gegen Mittag fühlte das Klassenzimmer der Zehn A Zwei sich an wie ein Gefängnis. Ein fideles, für kurze Weile. Denn Frau Dr. Gollnow, die zu aller Dankbarkeit die Abkürzung ihres Vornamens in eine Erdmuthe auflöste, sie wollte uns lieber als patente Person gelten denn noch länger ihre Entbehrungen einem Stolz opfern; eine Raucherin war sie und gestand es ein. Abstimmung über Raucherlaubnis innerhalb eines Raums für schulische Zwecke. Inventur der vorhandenen Tabakwaren, kommunistische Verteilung: jedermann nach seinen Bedürfnissen, statt nach Verdienst. Aber gegen zwei Uhr waren die Zigaretten Turf
Tausende Unter Russischer Führung.
Tausende,
sag ich dir
wie auch die nachgemachten Glückszufälle à la U. S. A. verbraucht, die heimliche Angst gestiegen bis an den Hals; da die Gollnow Mutmaßungen über die Quarantäne sich verbeten hatte ein für alle Mal. Draußen mußte etwas vor sich gehen, das betraf die Schülerschaft insgesamt; war etwa die Stadt Gneez am Brennen?
Gegen drei Uhr nachmittags wurden Brötchen aus der Schulspeisung verteilt, von einem verbissen wortkargen Loerbrocks, der bewacht war von einem schulfremden Zivilisten; trocken Brot ohne Wasser oder Suppe, das Schlucken tat mittlerweile weh. Das stumme Raten, die verwirrten (auch spöttischen) Frageblicke, hilflos hochgezogene Schultern; bald war es schwer, zuversichtlich zu bleiben. Wer die Toiletten benutzen wollte, wurde hinaus gelassen auf zwei
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