Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Schläge gegen die Klassentür, aber begleitet von einer weiblichen oder männlichen Dienstperson; die verweigerten das Sprechen. In der Zehn A Zwei fingen sie an nach der Sitzordnung (besaß das Sekretariat einen zweiten Klassenspiegel?) statt nach dem Alphabet. So war Gantlik an der Reihe vor Cresspahl, Wollenberg vor Pagenkopf, und keiner kam zurück. Cresspahl wartete als letzte in der Gesellschaft der Gollnow, der waren die Schwänke ausgegangen, die flüsterte etwas von Viel Glück! als werde gerade diese Schülerin es benötigen. Brennende, verhungerte Augen hatte Frau Dr. Gollnow bekommen.
Gesine hatte Glück, im Korridor fiel ihr der einzige Regenmantel in die Augen, verlassen zwischen unzählig leeren Haken, den nahm sie an sich, als wärs der ihre. In einer Tasche spürte sie Papier; konnte beim Warten im Vorzimmer des Rektorats auch einiges lesen von den Druckbuchstaben. Elise Bock sollte Eskorte machen, Wachposten spielen; sie sah der Schülerin begütigend zu und hatte den Fetzen schon weggegrapscht, als der Ruf in ihrem Telefon die Klingel erst antippte. Baumschatten hinter Elises Rücken.
Das war geschickt, Anita. Sollst bedankt sein abermalen.
Die Kriminaler nahmen zuerst die Zehn A Zwei als Ganzes durch, D-B-G immer mitten mang. Aber es geht gegen dich.
Von dem Nachdenken über die Ursache war ich allmählich betäubt.
Ob du wohl böse wärst auf den Staat. Weil die Staatsgründer ein Scheißspiel angerichtet haben mit deinem Vater. Fünfeichen un all den Meß.
Deftig und deutlich, unsere Anita.
Wo doch Eile ist gewesen. Ob du dich vom Deutschlandtreffen ausgeschlossen hast, damit du heimlich fahren kannst nach Westberlin –
Wo ich bloß einen Schäferhund kannte.
– und Druckzettel holen, darauf kann man deutsche freie junge Menschen marschieren sehen hinter und unter Stacheldraht.
Das ist es nun wert, mein Amt in der F. D. J.
Keinen Pfifferling geben die drauf, das ist ihnen eher verdächtig, Gesine.
Weswegen du dich versteckt hast hinter Druckbuchstaben.
Du rat man, aber später. Die wollen dir an den Kragen. Die wollen wissen, ob du jemanden hast bei der Eisenbahn.
In das Direktorzimmer, in die Verhörstube trat eine Schülerin mit gesenktem Kopf, die Zöpfe fühlten sich schwer an; kaum daß sie den Kopf hob zu der Jugendfreundin Selbich, die starrte ihr hinterm Schreibtisch entgegen über geballten Fäusten, ruckte den Kopf hinüber zur Besucherecke. Polstergarnitur, Sequestriergut aus dem Bruchmüllerschen Haushalt; darauf ein mecklenburgischer Mensch mit dem Abzeichen der Einheitspartei im Revers, fast zu müde für eine tückische Mühe; neben ihm ein Mann im Alter Bettinas, ein Junge, um dessentwillen Lise Wollenberg einer Eifersucht verfallen wäre, hätte er sie bei Damenwahl übergangen; ein Herr. Schmuck geschnittener Stoff um die Brust, über den Knien Bügelfalten wie frisch unterm Eisen weg. Strenger, spöttischer Blick, der sagte: Dich kriegen wir auch noch. Die Schülerin sagte: Mein Name ist Gesine Cresspahl, Zehn A Zwei, geboren …
– Es sünt ädenste Dingge, sehr ädenste Dingge, über die wir mit dir sprechen …: begann der Biedermann, der gute Onkel, der ungern straft, es sei denn angebracht oder von Nöten. Den hielt eine erhobene Flachhand auf, als sei er dressiert. – … die wir mit Ihnen zu besprechen haben. Dassie man gleich klå sehn, wir gehn hie voe mit ein Re-speckt. Zehnte Klasse, all dissn Schåpschiet. Wissn Sie auch wohl, wo die Straße ist von Geschwiste Scholl in Schweri-en?
Wenn es nur das ist, Herr … (keine Auskunft). Da treten Sie vom schweriner Hauptbahnhof auf die Wismarsche Straße nach rechts, also in Richtung Süden auf die Stalinstraße, schreiten fort bis zum Marienplatz, heute Leninplatz, wo das Dom Offizerov ist und in Richtung Osten die landesweit beschwärmte Passage zum Schloß. Hinter der geht rechts, noch mal südlich, die Kaiser Wilhelm-Straße ab, heutzutage die Straße der Nationalen Einheit, die führt zur Graf Schack-Straße, rechts wie links. Das ist der kürzeste Weg, glaub ich. Graf Schack-Straße, die kennt ein mecklenburger Kind. Dort geht man tanzen im »Tivoli«! Die Straße weist bloß zwölf Nummern auf, da stand die Ortskrankenkasse, ein Stück von der Landesversicherung, und unter der 5c wohnte der Pastor Niklot Beste, Oberkirchenrat nach dem Krieg, seit 1946 Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche von Mecklenburg. Zur schweriner Vorstadt gehört die Graf Schack-Straße. Adolf
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