Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
F. D. J. hinter Stacheldraht. Stacheldraht? nie gesehen.
Hier fiel die Schülerin Cresspahl in die einzige Pause. Hier sagte sie einmal wahrheitsgemäß aus, und war unsicher. Was entsteht, was geht vor sich, wenn das Bewußtsein unverhofft eine Wahrnehmung entwickelt, die es vor neun Stunden hat abgleiten lassen? ein Nachbild? In dem namenlosen Warnzettel war Stacheldraht bloß ein Wort gewesen; nunmehr waren die gezwirnten Windungen mit den eingeflochtenen Haken ein Bild im Denken, unterlegt mit Sprechton aus der abendlichen Sendung der British Broadcasting: barbed wire. Wie konnte aus dem ärmlichen Gefühl des Überdrusses angesichts noch einer Welle von Plakaten am Abend der Vorsatz entstehen, den Stacheldraht zu bezeugen, so lebhaft, als sei er am Morgen gefaßt worden?
– Nach eindringlicher Selbstprüfung: begann die Schülerin Cresspahl zu bekennen, und stockte.
Sie dachte an Kurt Müller. »Kutschi«, Vorsitzender des Kommunistischen Jugendverbandes in Deutschland 1931. 1934 wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt, danach im Konzentrationslager Sachsenhausen. Nach der Abschaffung von Hitlers Bataillonen Landesvorsitzender der K. P. in Niedersachsen, 1948 Zweiter Vorsitzender der K. P. D., 1949 Mitglied des Deutschen Bundestages. Geschützt durch parlamentarische Immunität, am 22. März 1950 nach einer Dienstfahrt in die Republik des Sowjetniks als »verschollen« gemeldet. Zwei Monate später hatte das M. f. S. für das selbe Datum die Verhaftung Kutschi Müllers bekannt und zugegeben. Der saß auch an diesem Abend hinter Mauer und Draht; wenn die Angehörigen der F. D. J. für etwas marschierten, dann auch für diesen bewehrten Draht.
Sie dachte an einen Jungen aus der Zehn A Eins, festgenommen wegen eines Schlagers. Angesäuselt bei einem Klassenfest hatte der in der ersten Zeile eines Schmachtfetzens eine träumerische Vorstellung abgewandelt: »Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt.« Statt »Sonne« hatte er »Flotte« gesungen; aus Leichtsinn, auch wohl in der Einbildung, er sei kugelfest umgeben von seiner Funktion als Erster Vorsitzender seiner Klassengruppe. Paulchen Möllendorff war das gewesen, dem hatte seine gewandte Mundstellung vor Gericht eher geschadet. Vier Jahre Zuchthaus.
Sie dachte an Axel Ohr. Axel, immerhin achtzehn, auch er hatte mitfahren wollen zum Deutschlandtreffen der freien Jugend, mit einem Paket als Gepäck, das sah nach gebündelten Zeitungen aus, darin hatte er drei Kilo Elektrolytkupfer, das gedachte er in der verbotenen Hälfte von Berlin zu verkaufen, Bindegarn für Johnny Schlegels ländliche Arbeitsgemeinschaft zu erwerben. Johnny war noch einmal davongekommen, da Axel sich diesen Beitrag zur Arbeit hatte einfallen lassen im stillen Kämmerchen seines Gehirns; Axel war die volle Strafe angedroht, fünf Jahre Zuchthaus. Gewiß, es gab ein Gesetz gegen die Ausfuhr von Buntmetallen; aber es war unfähig, bei der Kornernte behilflich zu sein. Axel saß im Keller der Untersuchungshaft, um das Verlies war ein Draht gezogen mit Stacheln; wenn die Neue freie Jugend in blauen Hemden marschierte, auch dafür.
Die Jugendfreundin Cresspahl wiederholte nach ausführlichem Besinnen: ihr sei kein Stacheldraht aufgefallen. Nach den Marschzielen der F. D. J. befragt, gab sie die gewünschte Antwort. Sie wurde ermahnt, jederlei Sichtwerbung in Zukunft zu betrachten mit einer Aufmerksamkeit (sie hatte morgendliche Verschlafenheit vorgeschützt), einer dialektischen Benutzung der von ihr selbst zitierten Schädlichkeit zuliebe. Und immer mal die Ohren offen halten, wie? – Was slushaju, ich gehorche: sagte die Schülerin Cresspahl, was dem Leiter des Verhörs angenehm einging und auch wieder sauer, weil er stolz war auf seine nationale Zugehörigkeit wie auf sein Geschick, sie verbergen zu können. Auflachend wie ein Mensch, der ist ärgerlich auf sich selbst, unverhofft unhöflich erwiderte er: Do swidanie. Er versprach ihr ein Wiedersehen.
Vor dem Portal der pädagogischen Anstalt warteten fast alle Schüler, mit denen die Cresspahl ein Wort gewechselt, ein Lächeln getauscht hatte. An die siebzig hatten abwarten und zusehen wollen, daß sie dies Kind zurück bekamen in ihre Mitte. Es wurde Hurra gerufen wie in der Vorzeit beim Geburtstag einer tüchtigen jungen Fürstin. Es wurde gesungen.
Lise Wollenberg war nach Hause gegangen.
Und die Schülerin Gantlik, eben noch zu sehen an der Brücke über den Stadtgraben, sie
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