Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Bettina Selbich unschuldig an der geklebten Erkundigung bei den Mitgliedern der F. D. J., wofür sie denn marschieren. Aber an einem wachsam geführten Lehrinstitut unterbleiben solche Zwischenfragen von vornherein, ist das nachvollziehbar, Genossin? Und es hatten im Kreisschulamt des weiteren Briefe vorgelegen, aus der Schreibmaschine des versetzten Rats wie von der Hand eines Dr. Julius Kliefoth, beide lateinisch fundiert, mit Anmerkungen zu der sittlichen Reife, wie sie erforderlich sei zu einer fürsorglichen Aufsicht über den Bildungsgang junger Schülerseelen (damit meinten sie uns; Kramritz als Rektor muß für sie als genierliche Überraschung aufgetreten sein). Zwar zeigte die Einheitspartei sich großmütig, da sie sich hätte trennen können von Bettina; dennoch, den Wartestand als Kandidatin verlängerte sie ihr um ein volles Jahr.
Veränderungen im Lehrkörper: Frau Dr. Gollnow begibt sich in den Ruhestand, zwei Jahre über den Turnus; an ihre Stelle rückt Eberhard Martens: soldatische Haltung, blonde Haare im Rekrutenschnitt, »Das Böse Auge«. Ein Praktikum in Deutsch absolviert in Zusammenarbeit mit den Angehörigen der neuen Elf A Zwei der Diplomphilologe Mathias Weserich von der Universität Leipzig: noch ein Humpelmann, etwas beweglicher im Knie, dessen Gruß fiel aus als ein Diener vom Nacken her, mit einem fast viereckig aufgerissenen Mund voller knallweißer Zähne. Die neue Verwendung für die Kollegin Selbich: Fachkraft für Deutsch, auch Gegenwartskunde. Beifall.
Bei Erdmuthe Gollnow hatten die Schüler Gantlik allein, Pagenkopf und Cresspahl gemeinsam einen Besuch abgestattet zu Beginn der Ferien. Straffer Dutt, gütiger Blick in die Tassen mit Apfelblütentee, Perpendikeluhr, Vertiko, Sofa mit geschwungenen Holzrändern. Anita war stecken geblieben in den Manieren eines schicklichen Vorsprechens; von ihren beiden Mitschülern erfuhr Frau Dr. Gollnow später, daß auch sie wohl hatte bitten wollen, Frau Doktor möge still stehen und die Hand ausstrecken, wenn man die Schlüssel mit dem Amt des Rektorats an ihr vorbeitrage. Die alte Dame seufzte viel, bedankte sich für das Vertrauen, erklärte sich für zu schwächlich. (Sie war mit ihrer Gesundheit besser zu Wege als Alma Witte.) – Ja! krächzte die, in hüpfenden Tönen: wenn ich noch einmal Sechzig wär!
Während die Lehrerschaft bescheiden hinübertrat zur rechten Seite des Podiums, erklomm die Zentrale Schulgruppenleitung der freien jungen Deutschen das Podium, nahm Platz hinter den rot verhängten Tischen, einem Wall von Tuch. (Damit keine unwürdigen Beinbewegungen den Jugendfreunden auf dem Boden des Saals die Andacht verkleinern, Marie.) Unter den Krallen von Picassos gesträubter Taube übergaben Lockenvitz und Gollantz ihre Ämter; Übergang in Semestergruppen der Universität Rostock. Die Funktionäre fürs Protokoll und Kassieren dankten ab; Überlastung durchs kommende Abitur. Zum neuen Sekretär für Organisation der Schulgruppe wird gewählt mit 288 gegen 34 Stimmen: Dieter Lockenvitz, Elf A Zwei. Zum Ersten Vorsitzenden mit 220 Stimmen und einer Menge Enthaltungen: Gabriel Manfras, Elf A Zwei. Jugendfreund Manfras nach vorn!
Nie hätten wir gedacht, Gabriel könnte auftreten als ein Redner! Und doch, was für eine tragende Stimme holte dies wortkarge Kind unversehens aus dem Hals. Womöglich machte er das Schweigen wett, das er bewahrte von der ersten Schulstunde bis zur letzten, vom Theaterausflug bis zum Klassenfest; sogleich war vergessen, daß wir ihn für einen Schüchternen angesehen hatten. Die Versammlung geht über zur Wahl des Präsidiums. Bitte um Vorschläge. Dr. Kramritz, als Freund und Partner der F. D. J.-Schulgruppe. Akklamation. Der Lulatsch für Sport, weil er uns auch politisch die Hammelbeine lang zieht. Humorvolles Lachen. Die Mitglieder der Z. S. G. L., unvermeidlich. Als erstes Mitglied des Ehrenpräsidiums schlage ich vor den Genossen Jossif Wissarionowitsch Stalin, uns ein leuchtendes Vorbild wegen seiner kraftvollen Arbeit für den Frieden: die tagtägliche Sorge für die Ausgestaltung der proletarischen Hauptstadt, die Erschließung des Großen Nördlichen Seeweges, die Trockenlegung der Sümpfe der Kolchis; auch als Dank und Prämie für die Vollendung des genialen Werkes über den Marxismus und Fragen der Sprachwissenschaft. Frenetischer, abbrechender Beifall. Den Präsidenten der Volksrepublik Polen, Bołeslaw Bierut, für die friedliche Begegnung unserer Völker an der Oder und
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