Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
absentierte sich eilends, als sie genug gesehen hatte. Sie hielt es weiterhin und vorläufig für unklug, daß von einem Zusammenhang, einem Bündnis zwischen ihr und der Schülerin Cresspahl sollte auch nur ein Fetzchen zu sehen sein. Doch, so sprichst du, Anita.
Wir einigten uns fast einmütig auf die Empfindung, Bettina habe den Fahndern aus Schwerin sich an den Hals geworfen, die ihr unterstellten Schüler jedoch angesprochen und bedroht, als seien wir gefährliches Ungeziefer, Aussätzige, ansteckend, drei Schritt vom Leibe (und wiederum, als wolle sie uns beißen). Wir mögen ihr zu bereitwillig Platz gemacht haben, als sie angeschritten kam mit den beiden Herren in Ledermänteln. Schlaffer war sie nun, wir hörten sie barmen beim Abschied: Und das gerade an meiner Schule, Herr Kommissar!
Zu uns fuhr sie heftig herum mit dem Befehl, wir sollten aus der Hausmeisterei Wasser und Schrubber holen und die Reste der Klebezettel von der Hauswand entfernen. (Die Tür der Schule, zwei Trumms von eichenen Flügeln, Vorkriegsware Jahrgang 1910, hatte die Kriminalpolizei Gneez aus den Angeln gehoben und abgefahren.) So mußte der junge Elegant aus der Geschwister Scholl-Straße in Schwerin noch einmal sich zwängen aus seinem spiegelblanken kirschenschwarzen Auto (V. E. B. Eisenacher statt Bayerische Motorenwerke A. G.), die Genossin Selbich zu verwarnen und die Menge der mutmaßlichen Täter davor zu bewahren, bei der Kratzarbeit auch das übrig gebliebene Kleingedruckte noch zu studieren.
Und abermals suchte er sich die Schülerin Cresspahl aus für ein letztes Wort. Er stellte sich kameradschaftlich auf vor der jüngeren Person in seinem pflegeleichten Maßanzug und ließ vernehmen: Lehmann sei sein Name. (Noch heut würde ich ihn erkennen an einer zu hastig reparierten Hasenscharte. Er mag sich langweilen in Leningrad oder Prag; was soll ich ihn stören.) – Ein bemerkenswerter Nachname: fügte er hinzu und gab sich zu erkennen als jemand, der ist einer von den Kaisern im Neuen Mecklenburg.
Ob Bettinchen nun den Sprung noch schaffte von einer kommissarischen Leitung der Schule zu einer bestätigten?
Wem das Sorgen macht, der freilich fährt beschwerten Gemütes in die Großen Sommerferien von 1950, unruhig geradezu, mit einem Kopf voll Ameisengekribbel beim Einschlafen.
– Dreimal hättest du sie reinlegen können beim Verhör: sagt Marie; die beschwert sich.
– Bettina hatte etwas geklebt gekriegt fürs erste. Und wir hatten einander versprochen: nur in einem Notfall.
– Wenn das keiner war, erzähl mir einen!
– Coming up! Coming up!
31. Juli, 1968 Mittwoch
Die New York Times will uns einen Helikopter zeigen, an dem baumeln vier Kästen mit Nachschub für vorgeschobene Stellungen der Marineinfanterie nahe der Entmilitarisierten Zone in Viet Nam. Ein Foto im Stil der Propaganda-Kompanie, eines Nachrichtenwertes entbehrend.
Die Herren des Kreml und des Hradschin in Kosice halten geheim was sie so besprechen im Klubhaus von Cierna. Die aus Moskau sollen gestern abend um halb elf etwas verärgert abgehauen sein zu ihrem grünen Zug. Um aber doch etwas zu berichten, beschreibt uns die Tante Times die Salonwagen der Tschechoslowaken als, im Unterschied zu denen der Sowjets, blau lackiert.
Die Pravda
,
das Organ der sowjetischen Wahrheit, druckt die ostdeutsche Auffassung vom stillen, alltäglichen Leben auf den Straßen von Prag, mitsamt den Vermutungen über Vorgänge hinter der Fassade; als Beweis. Auch bringt sie, in einem Faksimile, einen Brief von 98 Arbeitern bei Auto-Praha, die bitten die Sowjettruppen um ein Verweilen im Lande.
Und ein Stadtrat von New York hat eine Woche lang in Harlem Ost gewohnt, als Schriftsteller verstellt; nun bekennt er zu wissen wie dort zu leben ist. Ratten hat er keine gesehen, aber er zweifelt eben, ob Ratten so ein Haus an der 119. Straße zwischen Park und Lexington aushalten.
Personalnachrichten aus der ersten Hälfte des Oberschuljahrs 1950/51 in Gneez, Mecklenburg:
Zur Eröffnung der Unterrichtsperiode stieg als erster ein steifbeiniger Mann auf das Podium zum Pult vor den versammelten Schülern (blaues Hemd) und stellte sich vor als neuer Rektor, mit allen Vollmachten und der emaillierten Darstellung verschlungener Hände im Revers: Dr. Eduard Kramritz. Drückte sich das nunmehr vergoldete Brillengestell in die Nasenwunden und verkündete: Einige von euch kennen mich bereits. Beifall. Die übrigen werden mich kennen lernen. Beifall.
Zuverlässig war
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