Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
Vom Netzwerk:
das Annehmen von Süßigkeiten untersagt war; betrübt saß er unter den Sommerschirmen vorm Lübecker Hof in Jerichow, mußte ein großes Eis gänzlich aus eigenen Kräften verschlingen. Gesine Cresspahl wäre zu feige gewesen, mit einem Trauerflor um den Jackenärmel unter Frau Selbichs Augen zu treten; die war mittlerweile fix bei der Hand mit dem Beantragen von Verweisen bei Direktor Kramritz. Thomas Manns Familie hat seinen Brief an den Sachwalter unterdrückt in der Sammlung für den vorläufigen Gebrauch; tatsächlich schrieb er dem Sachwalter im Juli.
     
    Zehn Verhandlungen etwa fanden in einer Stunde statt. Kein Verteidiger wurde zugelassen, kein Entlastungszeuge gehört. Gefesselt, obgleich den wenigsten eigentlich kriminelle Taten zur Last gelegt waren, wurden die Angeklagten, die im voraus Verurteilten dem Gericht vorgeführt, das nach Vorschrift Zuchthausstrafen von 15, 18, 25 Jahren, auch lebenslängliche über sie aussprach.
[…]
Herr Ministerpräsident! Sie wissen vielleicht nicht, welches Grauen und welche Empörung, geheuchelt oft, aber oft tief aufrichtig, jene Prozesse mit ihren Todesurteilen – denn es sind lauter Todesurteile – auf dieser Weltseite hervorgerufen haben, wie nutzbar sie sind dem bösen Willen und wie abträglich dem guten. Ein Gnadenakt, großzügig und summarisch, wie die Massenaburteilungen von Waldheim es in nur zu hohem Grade waren, das wäre eine solche gesegnete, der Hoffnung auf Entspannung und Versöhnung dienende Geste, eine Friedenstat. / Nutzen Sie Ihre Macht …!
© by Katja Mann
     
    Aber der Sachwalter benötigte seine Macht für die Vorbereitung solcher Vorführungen von Gerichtsbarkeit, die sein weiser Führer und Lehrer Stalin ihm gezeigt hatte in Bulgarien, Ungarn und der Tschechoslowakei. Wozu sollte er ein paar nützlichen Toten die Ehre zurückgeben, da von den Lebenden in seinem Lande nur an die einundfünfzig Tausend den Mut aufbrachten, seine Stimmzettel mit einem Nein zu versehen, bloß so viel Leute wie sie lebten in Gneez zusammen mit Jerichow.
    Klaus Böttcher saß bei Vadding in der Küche und kühlte seine Füße in Seifenwasser. Kommt seine Frau, Britte kommt und meldet: Du, da sind drei Herrn, alle in schwaazn Anzügn, die wolln was von dir. Klaus raus aus dem Fenster, hängt am Sims hoch über dem Werkstatthof, läßt sich fallen, rennt barfuß los über den Zaun, den Stadtgraben, den Wall, immer Richtung Westberlin. In Krakow mußte er unterkriechen bei einem Kollegen Tischler, die nackten Füße bluteten so wild. Britte denkt was ihr Mann denkt, sie bedient eine Telefonleitung nach Krakow. – Kannst kommn, Klaus, die waren alle vonne Universität, die wollten bei dir gemeinschaftlich ein Bootshaus bestellen, du Dœmelklaas! sagte die zärtliche Brigitte. Nach dem Schuldbewußten an seinem Verhalten befragt, äußerte Klaus wiederholentlich, immer von neuem verlegen: Woans sall de Haas bewiesn, dat he kein Voss is?
    Im Dezember 1950 beantragte Jakobs Mutter einen Interzonenpaß. Das war ein Stück Papier, das sollte ihr von Amts wegen eine Reise von Jerichow nach Bochum gestatten. Wenn sie recht berichtet war, so wohnte da ein Rest Familie von Wilhelm Abs. Bei Absens schrieb man sich allerhöchstens zu Todesfällen, bei Geburten dergleichen, zwei Wochen danach; zwar war sie alt, an die gefürchtete Nachricht wollte sie so nahe wie sie vermochte. Jakob nahm sich Zeit für die Gänge zu den Ämtern, Cresspahls Tochter fehlte dazu die Verwandtschaft; so dauerte es bis in den Januar, ehe sie beisammen hatte:
    eine polizeiliche Meldebescheinigung,
    ein polizeiliches Führungszeugnis,
    einen handgeschriebenen Lebenslauf (den vierten Entwurf),
    einen Nachweis über den politischen oder wirtschaftlichen Grund der Reise (da erfanden Cresspahl und Jakob ihr eine Erbschaft im Ruhrgebiet, und Dr. Werner Jansen, seines Zeichens Rechtsanwalt zu Gneez, zauberte, als sein Personal aus der Kanzlei war, auf der Schreibmaschine eine amtsgerichtliche Zustellungsurkunde mit einem westdeutschen Datum),
    eine Befürwortung der Reise durch die Einheitspartei (das schob Frau Pastor Brüshaver hin über die O. d. F. bei der C. D. U. von Schwerin),
    eine Bescheinigung des Finanzamtes Gneez, die Abwesenheit von Steuerrückständen betreffend;
    danach mußte sie die Dokumente nur noch ins Russische übersetzen lassen. Achtundzwanzig Mark nahm Lotte Pagels dafür, ihre krijgerstamschen Fehler eingerechnet. Anita, du hättest es gemacht aus Gefälligkeit, gib’s

Weitere Kostenlose Bücher