Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Neiße. Den Genossen Mao, den Befreier der Volksrepublik China, den Partner des Genossen Stalin. Den Schriftsteller Thomas Mann, zum Andenken an seinen verstorbenen Bruder, den Träger des Goethe-Nationalpreises, der durch seine Reise nach Weimar den Realismus an den Tag gelegt hat, wie er seinen Schriften aus den Knopflöchern scheint! Den Verfasser des Werkes »Ein Sechstel der Erde ist Rot«, den in seiner Heimat geächteten Theologen, Hewlett Johnson, den »Roten Dekan« von Canterbury! Das stehend applaudierende Publikum wird gebeten, das Gebänk zu schonen. Das Wort hat Jugendfreund Manfras zwecks einer Einschätzung der Weltfriedenslage sowie auch in Gneez.
Gabriel sah uns fremd an, umfaßte das vordere Ende des Pults mit der Rechten, stemmte die Knöchel der Linken gegen die hintere Unterkante, blickte nieder in sein Manuskript, vermochte eine Rede zu halten. (Da stand ein Kind, das hatte Bescheid bekommen, es würde aufgestellt zur Wahl und angenommen; das besaß ein vorbereitetes Referat.) Jugendfreund Manfras begann ordentlich mit dem Datum, der erste September der Tag des Friedens, so geloben auch wir. Der verbrecherische Einmarsch der nordamerikanischen Truppen und ihrer südkoreanischen Söldlinge in die nördliche Republik, deren Führer wir alle. Mögen die unter dem Joch des Kapitalismus ächzenden Westdeutschen sich fürchten vor dem Krieg, die kaufen sich ja haufenweise Segelboote zur Flucht, hamstern Benzin und stehen Schlange vor den Konsulaten Südamerikas; hingegen wir in Sicherheit unter dem neugewählten Generalsekretär des neu gegründeten Zentralkomitees der Einheitspartei W. Ulbricht; und fällt der ehrlose Gebrauch des Übernamens Sachwalter erbärmlich zurück auf jeden der ein deutsches Wörterbuch. Die Wachsamkeit der Partei, wie sie aufgetreten ist bei der Entlarvung der führenden Genossen Kreikemeyer und Konsorten, Verschworene des amerikanischen Provokateurs Noel H. Field und seiner widerlichen Dreiecksehe, diese Wachsamkeit wird auch uns. Der Verfall des britischen Empire an der Seite der U. S. A. kann nur. Das menschenverachtende Interview des westdeutschen Kanzlers mit dem Organ des Großkapitals, der New York Times
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sein Vorschlag zur raschen Aufstellung einer neuen deutschen Truppe, er wird unweigerlich. Wir beschließen die Versammlung mit dem Lied: Wir sind die Junge Garde / des Pro-le-ta-ri-ats.
In Gabriel Manfras’ Weltenpanorama hatte er des öfteren das Wort Diversion mitgedreht, und die des Lateinischen kundigen Schüler unter uns dachten anfangs: Was für ein altmodischer Mensch. Als er die Leute mit dem Leimtopf, die mit ihrer Neugier auf die Marschrichtung der F. D. J., einrührte als amerikanische Diversanten, brach zumindest die grammatische Bindung im Zuhören, und wir konnten erst nach dem Gesang von Anita erfahren: da gebe es allerdings so ein sowjetisches Wort, diversija, aber es bedeute keineswegs Ablenkung, es sei eine Attacke gemeint, ein Angriff. Von der Seite? Nein, frontal, im Grunde rundherum: sagte die verlegene Anita. Wenn sie doch endlich gewußt hätte, daß ihre Arbeit für das Dreifache J uns längst vorkam als eine Arbeit!
Von Gabriel Manfras ahnten wir nunmehr, wie er seinen Sommer verbracht hatte.
Auch Herrn Dr. Kramritz war auf einem Lehrgang der polierende Schliff verabreicht worden; unterdessen kam ihm seine Familie ein wenig abhanden. Verlor er seine Frau aus den Augen. So daß er der Kollegin Bettina Selbich, die mittlerweile schon mal eine eng anliegende Bluse aus unblauem Stoff und ein vor Demut anmutiges Wesen zur Schau trug, einen Vorschlag machte. Damit er für den Fall einer Scheidung doch wisse wohin und eine Zuflucht. Das Gerücht wünschte sich eine Ohrfeige; der Augenschein von Klaus Böttcher hatte ein verheultes Paar wahrgenommen auf dem Waldweg, der sich um den Smoekbarg quält. Nun aber gewann der Hauswirt Bettinas seine Klage auf Kündigung gegen sie, nur noch im Dänschenhagen fand sie ein einzelnes Zimmer; wurde von ihrer Parteigruppe belobt für Annäherung zur Arbeiterschaft und hatte Angst vor Wieme Wohl. In die komplette Wohnung am Domhof, drei Zimmer mit Küche Keller Bad, zog die versöhnte Familie Kramritz, mit Blick über die Pfarrwiesen bis zu den Pappelreihen vorm Stadtsee. Kaderschutz. Wer seine Kader schützen will, muß sich aussuchen.
Die Nachricht von Thomas Manns Unterschrift unter den Stockholmer Appell, die Deklaration zur Ächtung der Atombombe ohne Ansehen eines Besitzers, die hatte uns
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