Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
wenig.
Sonderbar genug galt ihr die Schule als ein Weg nach draußen. Ihr Vater hatte sie aus der Hauptschule von Jerichow genommen, weil der Lehrer Stoffregen schlug; weil sie ihn eines Tages noch verraten würde vor dem sudetischen Gefeller, Schuldirektor und Gauredner der Nazis; versteckt hatte er sie im Lyzeum von Gneez. Das Kind dachte sich daraus zurecht, er habe im Ernst eine weiter führende Schulbildung angeraten. Dann blieb ihr nichts übrig, als die Ohren anzulegen und geradeaus dorthin zu gehen, wo die Schule aufhörte, an den märchenhaften Platz, der Abitur hieß und Erlaubnis, etwas auszusuchen. Nein, mutig war sie kaum. Angst hatte sie.
Sie fing an mit Lügen. Für den Eintritt in die siebente Klasse, in die Brückenschule von Gneez, hatte sie nicht nur das Abgangszeugnis der sechsten Klasse abgeben müssen, auch einen Lebenslauf. Es war eine Schule unter der Verwaltung der Roten Armee, ihr Vater stand nicht gut mit den Sowjets. Oder umgekehrt. Das konnte sie nicht wissen; etwas anderes hatte sie gelernt. Sie gab ihn an im Lebenslauf, sie beschrieb ihn als Tischlermeister, selbständig, verkleinerte seinen Anteil am Bau des Flughafens Mariengabe, beschränkte ihn auf seine Anstellung als Werfthandwerker, kam zu sprechen auf die Befreiung durch die Sowjetunion und tat, als sei er weiterhin am Leben, Arbeiten, Wohnen in Jerichow.
Wer eines Tages die amtlichen Lebensläufe dieser Gesine Cresspahl vergleicht, er wird nicht umhin können, verschiedene Personen dieses Namens anzunehmen. Oder aber eine einzige, die war jedes Jahr eine andere und wurde sich selbst unbekannt von einem auf den anderen Tag!
Eifer fiel auf, sie entschied sich für Fleiß. Wie sie in der alten Schule »John Maynard« abgeben konnte durch Aufsagen, in Antworten, Klassenarbeiten, lieferte sie dem Lehrerpersonal in der neuen die gewünschte Beschreibung des gegenwärtigen Lebens in Mecklenburg:
Aufbau der anti-faschistisch-demokratischen Grundordnung. I . Definition. Das erste Wort, ein Attribut, nur in Zusammensetzungen zu verwenden, drückt eine Gegnerschaft aus. Sie richtet sich auf eine Herrschaftsform, deren Symbol die Rutenbündel der Liktoren im alten Rom waren, auf eine Unterdrückung des Volkes durch Gewalt in den Händen Weniger. Gewalt haben wir keine in Mecklenburg. Demokratie, eine Verbindung aus den griechischen Worten für Volk und herrschen (demos & kratein), bedeutet eine Ausübung der Macht durch das Volk selber. Wir sehen im Landkreis Gneez, wie die Ausbeuter und Räuber am Volk davon gejagt wurden oder mindestens dreißig Kilometer von ihrem Besitz entfernt Wohnung suchen und arbeiten müssen. Das Volk selber besteht aus den Arbeitern, den Bauern, dem Kleinbürgertum, dem mittleren Bürgertum, in dieser Reihenfolge. (Diese Stelle war für sie heikel, weil sie in der Rangordnung recht ungünstig stand, Handwerkers Kind.) Alles zusammen macht eine Grundordnung aus. II . Anwendung. Ein Beispiel dafür bietet die Schulreform.
In Physik schrieb sie auf Verlangen: Alexandr Stepanovič Popov, russischer Physiker, geboren am 17. März 1859 in Bogoslovsk im Gouvernement Perm, gestorben am 13. Januar 1906 in dem damaligen St. Petersburg, erfand im Jahre 1895 das Telefon. (Sie hat es geglaubt, sie kümmerte sich nicht mehr um den Ursprung der Anekdote, bis zu sechzehn Jahren konnte sie Telefone nur zusammen denken mit Behörden und ein paar ausgewählten Bürgersfamilien, Günstlingen der N. Ö. P.) Auch in ihrem Abitur, Juni 1952, wäre die Antwort noch richtig gewesen. Ohne Absicht, gewiß nicht auf Suche, schlug sie das 1950 von Papenbrocks geerbte Konversationslexikon auf an der Stelle, wo der Lebenslauf von Alexander Graham Bell dargestellt ist. Noch lange später wünschte sie sich, sie müßte das Jahr 1895 nicht gerade deswegen vergessen, dürfte eine andere Vorfreude auf Edinburgh in Schottland behalten.
1947 hatte sie im dritten Jahr Russisch, immer noch bei Charlotte Pagels. Das Thema war die Ableitung mecklenburgischer Worte aus dem Slawischen, einer dem Russischen vorangegangenen Sprachform, nun wohl. Am Schluß meldete sich Cresspahl, mit der für dies Kind mittlerweile bekannten Schüchternheit, und bat um Erlaubnis, etwas über Gneez sagen zu dürfen. Es könne doch wohl herrühren von dem sowjetischen Wort für Nest, nicht wahr? Gnezdo. Eine Eins ins Klassenbuch! (Dergleichen schadete ihr bei den anderen Mädchen in der Klasse, sogar bei Lise Wollenberg; sie mußte es beheben mit der Lage ihres
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