Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
eingerissen, brauchen grobe Nähte; einfach aufgesetzte klammerst du wieder an, am Mantel ist nichts zu sehen. Sie wollte keinen Mantel mit Kragen, der nach kleinen Jungen hieß; daran und am Gürtel konnte Einer sie festhalten. Sie kam heutzutage so oft ins Gedränge, da rissen die Knöpfe ab wie aus eigenem; unter einer Leiste hätte sie die behalten dürfen. Sie hatte den Mantel ja zu mehr brauchen wollen als zum Wohnen darin; er war bestimmt gewesen als ein haltbares Gehäuse für die Reise, auf die die Sowjets sie einmal holen konnten, weil sie den Vater geholt hatten. Nun hatte Gesine Cresspahl einen schwarzen Mantel, der war bloß zeitgenössisch elegant.
Frag die Gräfin Seydlitz, sie wird auch hier Bescheid wissen wollen und einem Kind nachsagen aus der gelungenen Ehe der Eltern, es komme viel früher, kräftiger zu sich selbst, zu einem Begriff von der Stelle Ich, zumindest wo es haben will oder wünscht, vielleicht auch, wo es sich kennt als Ich und das bekannt macht in seiner Welt.
Marie Luise Kaschnitz aber hat gesehen und sagt, wie ein Kind sich schaden kann an einem vollkommenen Bündnis der Eltern. Die halten zusammen gegen das Kind, lassen es nicht zu sich einzeln, verweigern ihm das Aussuchen unterschiedlicher Ansätze fürs Lieben, halten es fest in dem unweigerlichen Verzicht, noch mit dreizehn Jahren kaum mehr zu sein als das Kind der Eltern, fast nur beschrieben durch sie.
Das eine Kind wie das andere, beide können sie zurücklaufen zu den Eltern, wenn die Welt sie nicht verstehen will oder kränkt, auch zum großen Bruder, de hett Nœgel ünner de Schauh, in ihrem Schutz geborgen und doch des Verständnisses von sich selbst nicht verlustig. Die Älteren bringen ja nur in Ordnung, was solche Kinder noch nicht haben lernen können; von ihnen werden sie es lernen, auch in Unordnung unverletzlich zu bleiben.
Dem Kind Gesine Cresspahl war die Mutter weggegangen schon im November 1938, es war verraten worden mit viereinhalb Jahren. Der Vater, nicht nur deswegen unentbehrlich, auch als Bundesgenosse im englischen Geheimnis, hatte die Bürgermeisterei von Jerichow zum Ärger der Roten Armee verwaltet, mochte es die Sache mit den Abtreibungen sein oder Mangel an Gehorsam, bei den Russen war er nun, unerreichbar, jeden Tag weniger zuständig für das Kind, da er nicht sah, was sie sah. In ihrem Haus lebte eine Frau von der Insel Wollin, gewünscht als Mutter für alle Zeit, die durfte sie schwerlich bitten: Nimm mich an an Kindes Statt. Sie half, mehr noch, sie ließ sich helfen und war mit dem fremden Kind glücklich, wenn einmal nachmittags ein Ofen schon geheizt war. Auch das weiß ich von ihr: Du kannst nun selber Kinder kriegen, Gesine.
Da war Jakob Abs, der Sohn Abs, der nahm sie als die kleine Schwester. Die Zeit, die er nicht arbeiten mußte, hängte er an die Geschäfte, zu allererst jedoch an ein Mädchen, das war nicht zu jung für ihn, ein vor Schönheit nicht träumbares Geschöpf, Anne-Dörte hieß sie. Nicht nur zu ihr ging er weg, auch aus Jerichow schon. Sein Russisch lernte er aus einem Buch der železnodorožnych terminov, vom Gaswerk machte er sich auf den Weg zu einer Lehre bei der Eisenbahn, die würde ihn wegfahren nach Gneez, nach Schwerin und einmal ganz weg aus Mecklenburg.
Die waren ihr geblieben.
Was fängt eine solche Gesine Cresspahl nun an, wenn sie vierzehn Jahre alt werden soll am 3. März 1947 und darf sich nicht verlassen auf einen einzigen in Jerichow und Umgebung? Wird sie so blind vor Angst, daß sie denen nachläuft, die bloß in der Nähe sind, von den Freunden des Vaters bis zu einem Lehrer, der einmal nicht fragt nach seinem Verbleib? Oder, das kann sie auch getan haben, sie begreift sich als allein gegenüber den Erwachsenen, in zwar nicht angesagter Feindschaft, jedoch ohne Hoffnung auf Hilfe von ihnen? Kann die nicht auch sich merken als ein Ich, mit Wünschen, mit Zukünften, die müssen bloß erst noch versteckt werden?
Das Kind das ich war, Gesine Cresspahl, Halbwaise, dem Andenken des Vaters zuliebe entzweit mit der überlebenden Verwandtschaft, auf dem Papier Besitzerin eines Bauernhauses am Friedhof von Jerichow, am Leibe einen schwarzen Mantel, sie muß sich eines Tages entschlossen haben, den Erwachsenen das verlangte Teil zu geben, dabei sich selbst von dannen zu schmuggeln und in ein Leben zu kommen, in dem durfte sie dann sein, wie sie würde sein wollen. Wurde es ihr nicht gesagt, mußte sie es allein herausfinden. Mut verschlägt da
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