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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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Hauses gegenüber der jerichower Kommandantur, mit Erzählungen von Herrn Leutnant Wassergahn. Endlich kam Lise ihr zu Hilfe. – Doch, du: sagte sie. – Die Cresspahls warn mal so gut wie besetzt!)
    Nur keinen Blick abseits vom Lehrplan, der war zum Abstürzen:
    Händchen falten, Köpfchen senken
    still der S. E. D. gedenken;
    gib uns mehr als Kartoffeln und Kohl,
    auch was essen der Erste Sekretär und der Zweite der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands wohl!
    Wenn eine Mädchenklasse gegen Mittag allein gelassen wird, frierend in ihren Mänteln sitzt, bei 12 Grad Celsius im schönsten Falle, was können die für verrückte Singetänze anstellen, kreischend, wie die Tollen über die Tische hüpfend!
    Zucker sparen?
    Ganz verkehrt!
    Zucker essen!
    Zucker nährt!
    bis Fifi Pagels hereinstürzte, ganz ohne Erinnerung an die Preise auf dem Schwarzen Markt für Süßmittel, nur verletzt in ihrem Traum von artigen Kindern etwa um 1912, und ausrief: Ihr bösen, bösen Kinder!
    Im Februar 1947 wurde bei Dr. Kramritz die neue mecklenburgische Verfassung durchgenommen, die der Landtag der vorjährigen Wahlen sich gegeben hatte. Bürger des Landes sind alle Einwohner deutscher Staatsangehörigkeit. Die im öffentlichen Dienst Tätigen sind Diener des Volkes; sie müssen sich des Vertrauens des Volkes jederzeit würdig erweisen. II . Grundrechte und Grundpflichten der Bürger, Artikel Acht. Die Freiheit der Person ist unverletzlich.
    Personen, denen Freiheit entzogen wird.
    Sind spätestens am folgenden Tag in Kenntnis zu setzen.
    Von welcher Behörde und aus welchen Gründen.
    Die Entziehung der Freiheit angeordnet worden ist.
    Unverzüglich ist ihnen Gelegenheit zu geben.
    Einwendungen gegen ihre Freiheitsentziehung vorzubringen.
    Herr Dr. phil. Kramritz war Mieter zweier Zimmer in Knoops Fürstenhof. Als Knoop im März zurückkam aus seiner entzogenen Freiheit, war dies das erste, was seine treu sorgende Mutter von ihm seit dem 3. Februar erfuhr. Selbst bewährten Freunden gab Knoop keine Auskunft über den Haftort, über Veranstaltungen in der mangelnden Freiheit. Was er gern antwortete, unbeweisbar feixend, gemütlich, in breitem Hochdeutsch: Das Verfahren is niedergeschlagen worden. Ganz wie Emil.
    Im März kam einmal die Schülerin Cresspahl dran in Englisch, obwohl Frau Dr. Weidling sich längst in der Mitte des Alphabets befand, nach gerechter Reihenfolge. Zu dieser Unterrichtsstunde brachte sie einen jungen Mann mit in städtischem Zivil, den stellte sie vor als künftigen Neulehrer, zu dessen Ausbildung solche Hospitation gehöre. Frau Dr. Weidling war die sowjetische Spionageabwehr schon ziemlich dicht auf die Haut ihres Mannes gerückt, die unterlassene Warnung ist ihr wenig zu verdenken. Wer möchte was verdacht haben aus jenen Zeiten. Nach einigen grammatikalischen Fragen in der Gegend von N., O. und P. wurde das Cresspahlsche Kind aufgerufen zum Vortragen eines Gedichts, das war aufgegeben in Portionen zum Auswendiglernen. Sie hielt es immer noch für ein Versehen, daß die Sowjets das Englische zuließen als eine zweite Fremdsprache, sie wollte Frau Weidling gern eine Blamage ersparen, sie fing an und hielt durch, in einer widerlichen Lautbildung, in schülerhafter Rhythmisierung, aber in der Satzmelodie so achtlos und annehmbar, wie sie das gelernt hatte von ihrem Vater seit 1943, wann immer sie ohne Ohrenzeugen gewesen waren, woran Frau Weidlings Unterricht wenig hatte verändern können:
     
    Recuerdo
    by Edna St. Vincent Millay
    born 1892
     
    TOLD BY HEART
     
    »We were very tired, we were very merry –
    We had gone back and forth all night on the ferry.
    . . . . . . .
    We hailed ›Good-morrow, mother!‹ to a shawl-covered head,
    And bought a morning paper, which neither of us read;
    And she wept ›God bless you!‹ for the apples and the pears,
    And we gave her all our money but our subway fares.«
     
    Marie mag es nicht glauben, eben weil wir auf der Fähre einfahren nach Manhattan und gleich die Subway benutzen werden für den Weg an den Riverside Drive. Marie mißtraut Geschichten, die in allem zusammenpassen; so weit hab ich sie nun. Tatsächlich war Frau Weidling in Lehrerkonferenzen bekannt gemacht worden mit einigen Zeichen der Zeit, sie ließ uns auch Poeme lernen wie »Das Lied vom Hemde«, Verfasser Thomas Hood, 1799-1845, Mit Fingern mager und müd / Mit Augen schwer und rot / In schlechten Hadern saß ein Weib / Nähend fürs liebe Brot, die sozialkritische Anklage.

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