Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Minuten für das Memo an den Chef der Personalabteilung: Das Restaurant Dorrius, Amsterdam, Niederlande, hat einen Ausgang am N. Z. Voorburgwal und zwei zur Spuistraat hin (N. Z. = Nieuwezijds = Neuseite; eine Altseite gibt es seit ungefähr 150 Jahren nicht mehr): mit verbindlichen Grüßen Ihre G. C. … als die abendliche Hitze der Straße über sie fällt, weiß sie noch einen scharfen Rand von Furcht. So ist es, wenn eine etwas vergessen will. Warum sollte ihr Schlimmeres abverlangt werden als den Leuten um sie herum, die vorsichtig auf den Bahnhof Grand Central zugehen, in Angst vor dem plötzlichen Ausbruch von Schweiß, vor der Nonne, die zwischen den Klapptüren im östlichen Eingang eine Bettelschale auf den Knien hält, vor der abgerissenen alten Frau, die mit ihren aufgequollenen Beinen auf den Stufen zum Graybar Building schläft, eine fransige Papiertüte fest in der Hand, an diesem 1. Juli 1968. Es ist nicht Angst, es fühlt sich übler an: wie Abschied, Abschied von New York.
2. Juli, 1968 Dienstag
Das amerikanische Militär in Viet Nam streitet sich mit der Presse und leugnet rundweg, in Kriegszeiten könnten die Reporter die Neuigkeiten so rasch und vollständig kriegen, wie sie das wünschen mögen. Die Leute von den Zeitungen halten es überdies für machbar. In der vorigen Woche ging John Carroll, von der Baltimore Sun, nach Khesanh und sah mit seinen Augen, wie Marinesoldaten die Startbahn in die einzelnen Stahlplatten zerlegten und eigene Bunker mit Dynamit hochjagten. Da er den feindlichen Truppen in vorgeschobenen Stellungen ähnliche Beobachtungen zutraute, schickte er die Nachricht nach Hause. Der General von der Presse zog Mr. Carrolls Karte für unbestimmte Zeit ein; mit dem werden nun weder die Angestellten der Botschaft noch des Militärs sprechen, und wenn er von einem Ort an den anderen will, nimmt kein Fahrzeug der Armee ihn mit. Sie gibt ihm recht in seiner Einschätzung mit neun Zehnteln; ihr eines Zehntel Meinung reicht zum Verbot. Vielleicht paßte der Rückzug aus Khesanh noch nicht zu den drei Monaten blutiger Verteidigung.
In Hessen, westdeutsche Republik, ist Dr. Fritz Bauer gestorben, Generalstaatsanwalt und einer der wenigen im Amt, die von Anfang an die Verbrechen der Nazis für gerichtlich erfaßbar hielten, und erfaßten. Gerade die suchte er, die als Beweis von Unschuld reine Hände vorzeigten, alle Tintenflecken abgewaschen, von Eichmann bis zu den Ärzten der Konzentrationslager. Ohne ihn hätte es den Prozeß über Auschwitz von 1963 bis 1965 nicht gegeben. Viele Schriftsätze an Herrn Bauer hat sie sich ausgedacht, das Kind das ich war, keinen abgeschickt. Bloß 64 Jahre alt, gestorben.
Die Gesine Cresspahl der Sowjetischen Besatzungszone hatte im Frühjahr 1947 angefangen mit einem Tagebuch.
Es war nicht so recht eines. (Wie dies keins ist, aus anderen Gründen: hier macht ein Schreiber in ihrem Auftrag für jeden Tag eine Eintragung an ihrer Statt, mit ihrer Erlaubnis, nicht jedoch für den täglichen Tag.) Das schrieb sie selber, ließ aber ganze Wochen aus. Es kam nicht aus einem Entschluß zu einem Neuen Jahr. Gewiß, es sollte gegen das Vergessen sein, nur Jemand Anderem zuliebe als ihr. Es sah kaum aus wie ein Buch, wie ein Heft. Jakobs Mutter hätte sich gescheut, es anzufassen, Jakob wäre nicht über die erste Zeile gekommen; sie wußte recht ungenau, warum sie es schützen mußte. Es lag mal zwischen diesen, mal zwischen jenen Seiten von Büchners Wirtschaftsgeographie von Mecklenburg-Schwerin. Das ist eine Dissertation, dick genug für eine Widmung an Eltern, dünn wie Broschüren sind; mehr als Zettel sind da kaum einzulegen. Auf dem Zettel standen keine Daten, das mußte noch keinem zweiten Blick ein Tagebuch sein. Da waren wenig volle Sätze zu sehen in der unausgewachsenen Schrift, bloß Worte in Reihen hintereinander, in der Art eines falsch angelegten Vokabelhefts, viele ausgestrichen. Eins war noch zu lesen, »schartig« hieß es. Gelegentlich vergaß sie, was sie hatte festhalten wollen. Dies finden wir noch einmal. Es enthielt die wiederkehrende Empfindung, das Gesicht der Schülerin Cresspahl müsse doch sich schartig ausnehmen im Gespräch mit Erwachsenen, bloß weil sie es von innen so fühlte. Was aber fangen wir an mit einer Notiz wie »Ja kolokolčik« oder »Packard? Buick«? Es ist verloren. Und nicht nur standen da, gestrichen oder belassen, russische Worte, auch deutsche versteckt in kyrillischer Umschrift. Das ist
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