Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
silberdrahtige Brille noch fester auf den Nasenrücken drückte; dann schien er sich zu bewaffnen. Seine Strafen waren alle zulässig nach der Schulordnung; er genoß den Gehorsam. Die Flüchtlingskinder fürchteten ihn. Gesine Cresspahl fand die Wundenspur auf seiner Nase zum Ekeln. Immerhin erzwang er, daß die Klasse das Gewünschte aufsagen konnte. Anders war das bei Fräulein Pohl, Mathematik und Geographie, einer von denen, die zeit ihrer Laufbahn Fräulein heißen, obwohl sie über die Fünfzig war und an keiner Stelle ihres Leibes noch zierlich. Kräftig rotbraunes Haar im Bürstenschnitt, Jettaugen, voll in den Backen, voll im Kinn. Im immer einzigen grünen Jägerkostüm, gelegentlich mit dem passenden Hut. Vorwerk nannten wir ihren Busen; den Ausdruck erkannte sie nicht, Flüchtling aus dem Schlesischen. Die war der Welt böse über ihren Anteil an den deutschen Verlusten, das saß hinter ihrer gleichmäßig verdrucksten Miene. Der war es egal. Wenn ein Kind ein Rechenproblem nach der zweiten Erläuterung nicht verstanden hat, fehlte ihm bei dieser Dame schlicht der mathematische Verstand, es war aufgegeben in diesem Fach, mochte es die nächste Klasse nun nicht schaffen wegen dieser Fünf Plus. (Gesine Cresspahl bekam bei ihr für einen Aufsatz über die Bodenverhältnisse und Wirtschaft Chinas eine Anerkennung für geographischen Verstand; der Irrtum hielt sich bis ins nächste Frühjahr.) Frau Pohl, Fräulein Pohl mochte früher ihren Beruf ausgeübt haben wie einen ausgesuchten; jetzt war er ein Job für sie, die Voraussetzung für Zuzugsgenehmigung und Lebensmittelkarte, da zwar sollte es an nichts fehlen, mehr als das Notwendige verweigerte sie. Die Schülerin Cresspahl glaubte immer noch an ein Entkommen durch Lernen, die Zeit lief ihr weg bei solchem Unterricht, oft hatte sie das Gefühl von Versäumnissen. Was hiervon sie Cresspahl einmal sagen wollte, kam aus der Erinnerung, daß er ihr 1944 schon einmal geholfen hatte mit der Schule. In der Schule. Gegen die Schule.
»Antif.« Das gehörte zu Jakobs schweren Abenden. Denn Cresspahls Tochter kam nicht mit Kleinigkeiten zu ihm gelaufen, schon gar nicht mit jeder, erst recht nicht gelaufen; mochte sie jünger sein als Gräfinnen namens Anne-Dörte, ein Kind war sie längst gewesen. Jakob mochte denken, sie nehme sich ihr Recht von ihm als dem Mann im Haus; sie hätte allerdings auch Niemanden gewußt für die Fragen, die sie in der Schule als Antworten lernte. Sie kam mit dem Wort Antifaschismus schwer zurecht. Faschismus sei doch etwas Italienisches gewesen. Jakob wurde das so wie ihr aufgegeben in seinem Umschulerkurs; er sah recht ergeben aus, wenn er das nun noch einmal hin und her bewegen mußte hinter seiner harten breiten Stirn. Sie saßen oft auf den Stufen vor Cresspahls Tür, mit Blick auf die vernagelte Ortskommandantur; beide sahen wenig von dem marschierenden Posten, dem Bildnis Stalins im Triumphbogen. Wie Cresspahl konnte Jakob die Augen auf Fernsicht stellen. Ihr unterlief unfehlbar wieder, daß seine Schläfen so fest aussahen, die Stirn so ohne Kante eingebogen war in den Schädel. Warum mochte er sich das Haar so hoch hinauf scheren lassen, so kurz, und wenige Tage darauf sah es doch wieder aus wie ein Pelz. Wenn einem bei einem Pferd der Pelz gefällt, dann … Auch wurde sie nicht fertig mit der kleinen Faltenverschiebung in seinen Augenwinkeln, die sah so straff aus, so lebendig, als wüßte er von sich jede Bewegung. Dann hatte sie unordentlich zugehört. Jakob war längst dabei, ihr zu erklären, daß die Nazis mit ihrem Nationalsozialismus den Sozialisten ein Wort weggenommen hatten, oder zwei, daß ein Ausdruck wie anti deswegen noch lange nicht in der Nähe von Sozialismus vorkommen durfte und daß ihr ja ein Antinazismus freistehe, solange sie sich verstanden glaube. – Ja …: nein: sagte das Cresspahlsche Kind. Gespräche können so unheimlich rasch zu Ende gehen. Das finde sie ein häßliches Wort. – Ein Schietwort für eine Schietsache: sagte Jakob. Da konnte sie nicht weiter. Sie hatte die ganze Zeit gewußt, daß er doch bald aufstehen werde, sich angenehm recken über ihr und aus seiner ganzen Höhe sie verabschieden, lächelnd, fürsorglich, wie ein Erwachsener zu einem Kind. – Vegæt din Bett nich: sagte er, ziemlich mecklenburgisch schon, da war er schon unter den Walnußbäumen hindurch und auf dem Weg zur Stadt. Das nahm sie übel, das schrieb sie in ihr Tagebuch. Antif.?
»Einbeinig, Fahrrad«. Sie
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