Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
hatte einen Mann gesehen, der konnte mit einem Bein ein Fahrrad regieren.
»A. in Gneez«. Sie hatte dies Kind nicht aufgeben können, in Träumen kam Alexandra wieder und war am Leben (und ohne jede Ähnlichkeit mit einer Hanna Ohlerich, die doch einmal Wochen lang neben ihr geschlafen hatte im gemeinsamen Fieber). Alexandra in einem fremden Land, ein Kopftuch um die Haare, so daß zwei helle Bögen sich abhoben über der Stirn, sagte auf Ukrainisch: Gesine, nimm mal. Halt mal diesen Kerl, und richtig hatte Gesine dann Dick Eberhardt Paepcke im Arm, der war auch nicht tot, der schlief bloß und träumte, wie sie. (In Gneez war im März ein Güterzug durchgekommen, voll mit Leuten aus Pommern, die die Polen abschoben. Gesine hatte den Aufenthalt für eine halbe Stunde erwischt, lief von Waggon zu Waggon und elendete die müden, angeschmutzten Menschen auf dem Stroh mit Fragen nach Paepckes aus Podejuch. Genau wie im Traum wußte sie, daß sie im April vor zwei Jahren gestorben waren, wie im Traum konnte sie sich nicht aufhalten und lief zur nächsten Schiebetür, wirr vor Scham, vor Hoffnung, fast weinend, sehr undeutlich im Sprechen.)
»Weißbrot«. Drei Zeichen des Ausrufs. Das war Dr. Schürenbergs aufrechter Widerstand gegen die kommunistische Besatzung. Da es öffentlich kein Weißbrot gab, verordnete er das auf manchen Rezepten.
»R. P.«. Ein Strich zwischen den beiden Buchstaben hatte daraus die Formel für Requiescat In Pace gemacht. Das half wenig, den Vorfall zur Ruhe zu bringen, auch war er eher gemacht von ihr als vorgekommen; die Erinnerung daran kam so scharf und schmerzlich wieder, sie zuckte zusammen wie unter einem Stich. Jakobs Mutter versuchte ihr jenen Abend auszureden, sie sprach so leise, so tröstend, bis ins Einschlafen. Am nächsten Morgen war es unvergessen. Wie kann etwas werden zu einer Furcht vor Schuld, das angefangen hat so klar und kalt und sauber wie ein naß geschliffenes Messer sich anfühlt?
R. P. hatte an einem Abend in Cresspahls Küche gesessen. Gesine kam von der verhaßten Tanzstunde, die für ihre feinere Bildung so unerläßlich war, und mit den höheren Sitten war sie mittlerweile so weit geraten, daß vor der Haustür ein sechzehnjähriger Kavalier stand, der Junge von der Apotheke, wartend auf weiteres Gespräch über Tangoschritte und den Abschlußball. In der Küche saß ein Fremder am Tisch. In dies Haus kamen seit Cresspahls Verschwinden so wenige Fremde, so selten Gäste; sie wünschte sich sehr, dies möge Cresspahl sein. Die Hoffnung zerrieb sich an ganz kleinen Blicken, schneller als etwas zu Worten werden kann im Kopf. Dieser war nicht von Alter rund in den ihr zugewandten Schultern, die hatte er von Trägheit. Er war am ganzen Leibe zu lang, noch von hinten erkannte sie, daß dieser rot und gesund im Gesicht sein würde. Auch wäre Cresspahl doch aufgestanden beim Geräusch ihrer Schritte, oder hätte sich umgewandt, gesagt: Kiek –.
Sie war nun wieder barfuß, keiner hatte ihre Schritte auf den Fliesen gehört. Mit dem Fremden am Tisch saßen Jakob und seine Mutter, nicht vertraulich, doch höflich genug, ein wenig unsicher, als hätten sie bei allem guten Recht auf ihre Plätze es doch zu rechtfertigen. Der Mann blickte bloß beiläufig auf, als sie sich an den Tisch stellte, sah da nichts als ein Kind. – Na, du? sagte er, herablassend, zudringlich vor Verwandtschaft, ganz behaglich. – Raus: sagte Cresspahls Tochter, vierzehn Jahre.
Es war Wochen her, immer noch versuchte sie sich einzureden, es sei kein Haß gewesen. Sie hatte ihn lediglich angesehen. Sie hatte sich sein Gesicht gemerkt: einen mecklenburgischen, etwas feisten Rundschädel. Große Augen von jenem Blau, das für ehrlich gelten soll und so fix flattert. Voller, verwöhnter Mund. So wohlanständig, so wohlgenährt am Leibe. In einem Anzug aus umgefärbtem Wehrmachtsstoff, passend wie nach Maß geschneidert. Wenn die Gummistiefel nicht paßten zu der Pracht, hatte er wohl die ledernen Halbschuhe hier abholen wollen. Er stand noch immer nicht. – Raus! schrie sie. – Du sast rut hier!
Das du tat ihr leid, als er draußen war; sie hätte so intim nicht werden dürfen. Dann endlich begriff Jakob, daß sie ihren eigenen Onkel, einen Bruder ihrer Mutter, Louise Papenbrocks liebstes Kind nicht in Cresspahls Haus haben wollte. Ach, der hatte nicht einmal Schläge bekommen. Schief grinsend, mit einem Achselzucken wie ein Ertappter, hatte Robert Papenbrock sich aus der Küche gedrückt,
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