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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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weggelaufen, keiner fängt es mehr. Es war nicht viel von einem Tagebuch, und sollte eines für Cresspahl werden. Wem man etwas aufschreibt, der muß doch kommen. Wer tot ist, kann der lesen?
    »Ja kolokolčik« ist ohne Strich, also war es damals nicht zum Schämen. Dann darf »ja« aber auch »ich« bedeuten, wie die russische Schreibweise es vorschlägt, es hat da jemand sich eine Abkürzung ausgedacht. Kolokolčik, was hatte Jakob da angefangen mit einer kleinen Glocke? Mit einer Schlittenklingel, etwa? Sollte das ein Name sein für jene Anne-Dörte, die ihn immer noch nicht nachgeholt hatte in ihr Schleswig-Holstein? Nein, hoffentlich. Denn gerade in bösen Namen wollte sie es nicht aufnehmen mit einem Mädchen, das Jakob ihr vorzog. War sie das selber gewesen, die zu kleine Glocke?
    »Rips«. Notierung des Schwarzen Marktes, Stoff, oder Risse darin? Nicht einmal Rippenschmerzen; der unausweichlich tägliche Umgang mit Jakob tat an einer anderen Stelle weh. Nein, Rips war Bettina Riepschläger, vertretende Fachkraft für Deutsch an der gneezer Brückenschule, wenig älter als die Schülerinnen der Sieben b, vom eigenen Abitur nach zwei Monaten Lehrerkurs mit humanistischer Bildung betraut, ein fröhliches Mädchen, ohne Verlangen nach standesgemäßer Würde. Wir machten während ihres Unterrichts, wonach uns zumute war; sie desgleichen. Oft sah es aus, als redete sie uns dazwischen. Die Schülerin Cresspahl wollte ihr beweisen, wie wenig sie ein gemeinsames Erlebnis am Windfang von Alma Wittes Hotel auszunutzen gedachte; am liebsten sah sie die bloß an. Bettina hatte sich ihr dünnes helles Haar schneiden lassen nach der Mode Strubbelkopf; sie bekam Strähnen von drei Zentimeter Länge zwischen die Finger, mit denen sie sich kämmte. Blond, das hatte die Erfahrung gelehrt, war Jakobs Farbe. Im Gegensatz zu dunkleren Tönungen. Heute wird sie auch wissen, daß die Mode kam aus jenem Film nach Hemingway, in dem die spanischen Terroristen einem Mädchen den Kopf geschoren hatten; jene Maria aber sollte dunkelbraun gewesen sein. Am besten blieb Jakob ohne Nachricht von solchem Kornblumenkleid, das in allem richtig fiel, von solchen schön ausgewachsenen Beinen, von dieser unbedenklichen hellen Stimme, die umsteigen konnte von einem kameradschaftlichen Ton in einen festen, der Zurückweisung ankündigen konnte und doch Schutz. Es kam vor, daß Bettina so alt tat wie ihre neunzehn Jahre. »Kinnings –« sagte sie wohl; dann waren wir eine Weile Kinder. Lise Wollenberg hat einmal geweint vor Angst, Bettina könne mit einer anderen auf dem Hof spazieren gehen als mit ihr; Lise versuchte ja jetzt schon die Füße zu setzen wie Fräulein Riepschläger. Aus Ludwigslust war sie. Diese Lehrerin sprach wenig in den umgedrehten Ausdrücken von Dr. Kramritz, die antifaschistisch-demokratische Grundordnung oder die führende Rolle der Partei der Arbeiterklasse kamen bloß vor, als verstünden die sich von selbst, weil vorhanden. Bei ihr schrieben wir Aufsätze wie »Mein bester Freund«. Cresspahl aus Jerichow war noch tiefer verrutscht in das unauflösliche Bedürfnis nach Heimlichkeiten, so mochte sie auch keinen besten Freund angeben und verfiel auf einen Hund. Den gab es nicht, es war weder der von der Kommandantur noch der Chou-Chou von Käthe Klupsch, den bildete sie sich ein, vom Körperbau bis zum Benehmen. Sie verstieg sich zu der Behauptung, jener Ajax bleibe angstlos am Beckenrand der Militärbadeanstalt liegen, wenn sie noch so spritzend an ihm vorbeischwimme. Aus diesen und vielen anderen Gründen: war dies der Schülerin Cresspahl bester Freund. Sie bekam als Zensur die Frage, in diskreter Rotschrift: »Bißchen sentimental, oder?« Sie freute sich sehr. Nun hielt sie diese Bettina für eine von den vernünftigsten Lehrerinnen ihres ganzen Lebens, und es war etwas an ihr, das wollte sie Cresspahl erzählen. Rips.
    Škola, die Schule. Da hatte diese Tagebuchschreiberin ihre Bedenken, Sorgen geradezu. Denn es waren wenige Lehrer wie Bettina, die ja nach der Schule »frei« hatte wie wir. Solche wie Dr. Kramritz glaubten sich geachtet, verehrt geradezu, nur weil es in deren Stunden still war; über ihn wurde kaum gesprochen. Es war einmal ausgemacht, daß es in Gneez anders zuging als nach seinen Erläuterungen zur mecklenburgischen Landesverfassung. Das steife Knie hatte er sich abgeholt in eben jenem Krieg, den er nun darstellte als nationale Schuld, statt seine. Es sah aber unkorrekt aus, wenn er sich die

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