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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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Vorhängeschloß gesichert. Sie hörte eine Frau sprechen, wie man es tut mit kleinen Kindern, die schon Worte annehmen. Alles das brachte die verlorene Zeit nur wieder als einen Gedanken: Als wir …; die gedachten Worte kamen nicht zum Leben. Fast jeden Abend beim Milchholen geriet sie in die Nähe des Moments, in dem Grete Nagel Alexandra und ihr ein Glas Milch angeboten hatte, jedoch frisch aus dem Euter, und die Kuh wandte ihre Augen um zu ihr. Es fiel ihr jetzt ein wenig schwerer, Milch zu trinken. Mehr fand sie nicht; ohnehin lag es wohl bloß daran, daß die Milch von Emma Senkpiel in Jerichow gepantscht war. Abends, wenn die Zeesenboote in den althäger Hafen liefen, patschten die Katzen durchs Schilf und warteten auf ihre Quartiergeber, auf ihren Fischanteil am Fang; Katzen, im Wasser! Sie hörte Alexandras Stimme nicht. Sie versuchte, beschreibende Ausdrücke zu finden für Alexandras Stimme in jenem Augenblick; da entging ihr fast die Ahnung davon. Vor Bauer Niemanns Dreiständerhaus hingen drei Leinen Wäsche, vier malende Leute nebeneinander malten das ab. Es war wie damals. Es war fest und undurchdringlich über das Andenken Alexandras gedeckt; übrig blieb nur ein Wissen, daß sie darunter verborgen war. Abends saß das Licht von Malchen Saatmanns Hinterzimmer im Gebüsch. Sie konnte denken: Der Abend, als wir noch Brot von Malchen holen mußten, Alexander saß vornehm auf dem Sofa, angedüdelt wohl, sagte zu seiner Tochter: Nun, du braves Kind? als kennte er sie nicht wieder … Gesine konnte es denken. Sie konnte es sich vorstellen als geschrieben. Es war nicht da. Sie war sich bewußt, daß in dieser Minute Stillstehens vor Frau Saatmanns freundlich verstreutem, heimlichem Licht der Wind stillstand, als verhalte er den Schritt. Sie fragte sich, ob sie das dereinst auch werde vergessen haben und bloß noch in Worten aufbewahrt.
    Ille tat es schließlich. Sie bat Gesine um einen »furchtbaren« Gefallen; dann war es bloß die Begleitung zu einer Gelegenheit, nach der Gesine nicht fragen sollte. Die ganze Zeit müsse sie schweigen. Die Stimme Illes war wacklig. Gesine hätte ihr mehr versprochen, wäre es zum Trösten gut gewesen. Die Gelegenheit war Besuch bei einer alten Frau in einem Katen von Niehagen. Ille stellte im Vorraum bei einer Gehilfin den Korb Eier ab, das Honorar. Innen, bei gegen das Sonnenlicht verdunkelten Fenstern und Kerzenschein, mußte sie vor die Besprecherin ein Foto des Kapitäns hinlegen, dazu ihren Ehering an einem seidenen Faden. Die Alte enthielt sich aller Fisimatenten; ihr Benehmen schien einem Arzt abgeguckt. Ihr Blick war der einer Geschäftsfrau, die etwas Bestelltes zum ausgemachten Preis liefert. Ein offener, heimlich verdeckter Blick. Sie stemmte die Ellenbogen auf und verschränkte Hand über Hand. Von einem vorher unsichtbaren Finger baumelte der Ring am Faden über dem Bildgesicht des Kapitäns. Er baumelte nicht, er hing von Anfang an still. Der Ring bewegte sich nicht, volle fünf Minuten lang. Wenn man in Gedanken bis Dreihundert zählt. Dann fing Ille an zu weinen. Draußen wurde ihr von der Gehilfin, offenbar der Schwester oder Partnerin in diesem Unternehmen, regelrecht wie einer Witwe Beileid ausgesprochen, sachlich, reell, in einer Manier, als sei ein solcher Ausgang unfehlbar zu erwarten gewesen.
    – Du auch? fragte die Gehilfin. Gesine hatte bloß versprochen zu schweigen. Die Begleitung hatte sie hinter sich, nun durfte sie weglaufen.
    Ille bestand zu Hause nicht darauf, darüber zu sprechen. Wir nahmen einander nicht übel. Wir konnten mit einander reden. Fünf Tage später oder so ging ich mit Lohn zurück nach Jerichow.
    Das Fischland ist das schönste Land in der Welt. Das sage ich, die ich aufgewachsen bin an einer nördlichen Küste der Ostsee, wo anders. Wer ganz oben auf dem Fischland gestanden hat, kennt die Farbe des Boddens und die Farbe des Meeres, beide jeden Tag sich nicht gleich und untereinander nicht. Der Wind springt das Hohe Ufer an und streift beständig über das Land. Der Wind bringt den Geruch des Meeres überallhin. Da habe ich die Sonne vor mir untergehen sehen, oft, und erinnere mich an drei Male, zwar unbeholfen an das letzte. Jetzt sackt das schmutzige Gold gleich ab in den Hudson.
    Da wußtest du, daß ich nicht wiederkomme, Gesine.
    Ja, Alexandra.
    Da warst du fertig mit dem Wunsch, dich umzubringen.
    Ja, Alexandra.
    Du hast noch daran gedacht.
    Ja, Alexandra.
    Aber du wirst es nun nicht mehr tun.
    Nein, Alexandra.
    Ich

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