Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
möchte die Tante Times uns heute noch vermitteln? Die von Lynn Tinkel.
Lynn Tinkel, 22 Jahre alt, Lehrerin, aus der Bronx, war am 19. Juni zugange mit James Lunenfeld, ihrem Freunde, zwei Jahre älter als sie, auch Lehrer, und zwar tat sie das auf dem Bahnsteig der IND ependent unter der 59. Straße. Es war spät geworden, schon halb drei Uhr morgens, und sie dachte sich: Ih –: dachte sie in ihrem Sinn: Werd ich meinen James mal fotografieren.
Das Aufnehmen von Abbildungen in New Yorks Subway aber ist verboten! von einer weisen Verwaltung der Verkehrsbehörde; es sei denn, sie hätte es einem schriftlich erlaubt, mit Siegel zum Vorzeigen. Nun hatte Lynn bloß ihren Einfall dabei, dazu ihren James. Dann kostet es 25 Dollars Strafe, ersatzweise zehn Tage Gefängnis!
Gestern stand Lynn vor einem Menschen im Talar, im Kriminalgericht an der Centre Street 100, wahrscheinlich vor dem Senat 5A (Verkehr), und kam um einen Freispruch ein. Es gehe ihr um das Grundsätzliche an der Sache. Wenn sie eben Lust habe, James in der Ubahn zu fotografieren … Der Richter sah es ein; entließ sie in Gnaden.
Nun will die Verkehrsbehörde etwas Genaueres sich einfallen lassen zu ihrem Verbot. So könnte sie ausdrücklich die Benutzung eines Stativs untersagen, darüber stolpern am Ende Leute; oder den Einsatz von Blitzlicht, das blendet den Führer des Zuges, oder Fahrgäste … sie kommt schon noch darauf. Aber Lynn ist frei, und hingen weniger als 82 Grad Fahrenheit über dem Broadway, mit einer Luftfeuchtigkeit von 73 Prozent, stiegen wir wohl hinunter in die unterirdische Bahn und fotografierten einander Fragezeichen?
Etwas hat die New York Times übersehen.
Die Gehsteige an unserem Broadway sind eingefaßt mit Stahlbandagen, die machen die Straßenecken steil, mühsam zu bewältigen für Bürger mit Kinderwagen oder auch nur mit solchen Einkaufskarren, in denen die Familie einen wöchentlichen Bedarf auf einmal nach Hause fahren soll. Zum ersten Mal heute sticht uns in die Augen und sänftigt unsere Sohlen, daß die Stadt die Übergänge zwischen Fahrdamm und Bürgerweg mit bequemen Rundungen der Stahlkanten versenkt hat, den Steuerzahlern zur Erleichterung und der Pflicht zu Erkenntlichkeit; als eine Abschlagszahlung: wie Marie sagt, die ist böse geworden von der stickstillen Luft über dem Hafen, der fällt das Schwitzen schwer.
Sollte das vorkommen? Dem Blick der New York Times entgeht etwas, eine stilistische Änderung im Meublement des Broadways Ecke Achtundneunzigste, eine ästhetische Korrektur, ein soziographischer Vorgang? Leider müssen wir es vorsorglich erwägen.
7. Juli, 1968 Sonntag
Haben wir nicht fortwährend treu gesagt, die New York Times sei eine Tante? War nicht dieses unser einziges Wort?
Wir könnten es beweisen mit ihrem gestrigen Auftritt, ihrer Vorlesung über die durchschlagende Auswirkung des U. S.-amerikanischen Wesens auf die Wirtschaft, die Politik und Kultur in jenem Teil Viet Nams, den dies Land vor dem Kommunismus retten will. Alles hat sie berücksichtigt, durchgeprüft, mundfertig gemacht: Die Südvietnamesen in der Nähe von Armeesendern schlucken von den Fernsehschirmen »The Addams Family« genau so gierig wie »Perry Mason«, die Studenten lesen die zeitgenössischen Klassiker der Literatur von Neu-England und Pennsylvanien, Coca-Cola ist da zu Haus, das Zuhause ist auseinandergerissen, die Familie zerbricht an den verdrehten Einkommensstrukturen, an der gewaltsamen Trennung von Boden und Haus und Dorf, die Liedermacher singen gegen den Krieg im amerikanischen Stil, die Mittelklasse ist sauer über den Verlust ihres Einflusses in der Politik und Verwaltung, sauer auf das neue Statussymbol des Geldes (Barmädchen erzielt fünffach das Gehalt eines Universitätsprofessors), nur sechs Prozent des Staatshaushalts werden von direkten Steuern gedeckt, ein einst unabhängiges Reisland muß Reis importieren, die Bodenreform ist versackt, die Durchdringung französischer mit amerikanischer Bürokratie verdirbt die einheimische: alle Folgen des amerikanischen Krieges kommen zumindest vor, nicht einmal die religiösen Querelen sind ausgelassen. Bloß eine Segnung westlicher Zivilisation, wiewohl auch ein amerikanisches Mitbringsel, die Geschlechtskrankheiten, hat die New York Times still übergangen. Eine Tante.
Wir könnten es beweisen mit ihrem Erscheinen von heute, den gut 800 Zeilen über die Brutalität der amerikanischen Polizei; streng und ärztlich beugt sie sich über die
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