Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Hals kriegen, das sind die Fäulnis, die Verdorbenheit, die nationalen Neurosen in übersteigerter Gestalt.‹
… Ironischer Weise hat der amerikanische Kultur-Einfluß sich am stärksten ausgewirkt auf den Folk-Song, in den Antikriegsballaden des berühmtesten Studentensängers in Viet Nam, Trinh Cong Son.
Der breiteste soziale Anprall der Amerikaner – und, in einer Verlängerung, ein kultureller – hat die wohlmächtige Mittelklasse getroffen, die ausschließlich die Bürokratie der Regierung versah, in Grundschulen und Colleges Unterricht gab sowie als Rechtsanwalt, Arzt und Geschäftsmann zur Verfügung stand. Diese gesellschaftlich bewußte Klasse hatte, nach allen Anzeichen, wenig Verbindung oder Mitleid mit den Bauern, oder sogar mit der Armee.
Amerikanische Beamte bezeichnen im Privatgespräch die Zerrüttung innerhalb dieser festverschanzten Klasse als begrüßenswert. Die vietnamesische Mittelklasse ist natürlich verbittert. Insbesondere wegen ihres Verlustes an Ansehen.
›Ein Universitätsprofessor kann achtzehntausend Piaster ($ 150) in der Woche verdienen, wohingegen ein Barmädchen es auf hunderttausend Piaster ($ 850) bringen kann‹, sagte der achtundfünfzigjährige Ho Huu Tong, ein Abgeordneter im Unteren Hause, der in den vierziger Jahren ein prominenter Intellektueller war. ›Die Intelligenz, das sind die Enterbten, die Verlorenen, wegen des amerikanischen Aufpralls. Wir sind unserer Position verlustig gegangen.‹
›Geld ist das Idol geworden‹, sagte Mr. Thien, der Minister für Information. ›Geld, Geld, Geld.‹
Dieses Thema widerhallt bei den ärmeren Vietnamesen: den Rikschafahrern, den Dienstmädchen, den Köchinnen. Aber für sie ist das Problem des Ansehens unerheblich, und der Zufluß amerikanischer Dollars kaum unwillkommen. ›Wie kann ich die Amerikaner hassen?‹ fragte eine grinsende Frau, die hinter einem Stand am Tu Do, im Herzen Saigons, Schwarzmarktzigaretten verkauft. ›Sie haben so viel Geld in ihren Taschen.‹
… Auf amtlicher Ebene ist es lediglich die amerikanische Unterstützung – sechshundert Millionen Dollar in diesem Rechnungsjahr –, die Viet Nam über Wasser hält. Dieser Betrag enthält noch nicht die amerikanischen Militärausgaben von mehr als zwei Millionen Dollar pro Monat.
… Nur 6 Prozent des letztjährigen Haushalts wurden durch direkte Steuern auf Einkommen und Geschäftsgewinne aufgebracht, im Vergleich zu etwa 80 Prozent in den Vereinigten Staaten.
In der Folge hilft sich die Regierung mit Abgaben auf Lebensmittel, Tabak, Alkohol, Streichhölzer und andere Waren, die schwer auf die Armen drücken. Und die Reichen, indem sie Bestechungen und die Bürokratie anwenden, zahlen oftmals überhaupt keine Steuern.
… Seit 1962 hat die Landverteilung in Süd-Viet Nam faktisch stillgestanden, und die Masse des Landes ist in den Händen der auswärts lebenden Großgrundbesitzer verblieben.
… Nach allgemeiner Ansicht würden Mr. Thieu, Mr. Ky oder sonst ein Führer Viet Nams in enorme politische Schwierigkeiten geraten, sogar wenn sie sich einverstanden erklärten mit jeglicher möglichen Reform, auf die die Amerikaner gedrängt haben.
Denn das Herz der Regierung oder des ›Systems‹ ist eine unhandliche, kafkaeske Bürokratie, die einen Fortschritt an allen Ecken und Enden behindert. Und in diesem Bereich ist der amerikanische Einfluß geringfügig geblieben.
Papierbetrieb, Dokumente, Stempel, gelangweilte Beamte überall. Die Beamten arbeiten vier Stunden am Tage.
›Wir werden mindestens eine Generation benötigen, um das System zu ändern‹, sagte einer der höchsten amerikanischen Vertreter in der Gesandtschaft der U. S. A. ›Vielleicht mehr als eine Generation.‹
… Ein südvietnamesischer Verleger sagte kürzlich zu einem Amerikaner: ›Sie sind Gäste in unserem Land, und die Vietnamesen sind sehr nett zu Ihnen gewesen. Überfordern Sie unsere Gastfreundschaft nicht.‹
… ›Eine Menge von denen sind so selbstgefällig, es kann einen auf die Palme bringen‹, sagte ein jüngerer amerikanischer Beamter. ›Wenn wir keinen Krieg hätten, wär’s irre.‹
Aber ein Student in La Pagode, einem Café am Tu Do, machte die Bemerkung: ›Die Amerikaner müssen wir für uns kämpfen lassen, damit wir im Frieden leben können.‹
Hatte der Student sich freiwillig zur Armee gemeldet? ›Nein, ich muß studieren, ich bin Student‹, erwiderte er.«
© by the New York Times Company
Und wessen Bekanntschaft
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