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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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Sünder und fragt, woran es denn liegt: weil die Bürger anders nicht aussagen? weil die Bürger auch Polizisten anrühren? weil die Polizisten Freude haben an fremdem Schmerz? weil sie bis zum Hals voll Verachtung sind? weil sie Angst haben? weil sie sich ihrer geringen Schulbildung schämen? weil die Akademie der Polizei eine psychiatrische Untersuchung nicht vorsieht? Dem schickt sie, zur tieferen Ermahnung, den Schlag hinterher, daß es ein Polizist in New Jersey war, der den vierzigjährigen Revolver von Smith & Wesson ohne Beachtung der gesetzlichen Vorschriften erwarb, daß es ein zweiter Polizist war, dem er das Schießeisen auf genau so strafbare Art verkaufte, und erst dann kam es in die Hände jenes Menschen, der vor vier Tagen ein junges Mädchen in einer Frauentoilette des Central Park erschoß. Sie wird die Polizisten der Nation schon noch zu artigem Benehmen bringen, diese Tante.
    Eine Person solcher Statur sollte gewiß sein können, es liefen über sie nur die angemessenen Meinungen um, gerade die (zwar die ungezogenen Definitionen aus Moskau und Vororten ausgenommen). Diese edle Einfalt, stille Größe bringt sie nicht auf. Sie riskiert Zweifel an ihrem Selbstbewußtsein, lieber geht sie auf Nummer Sicher und verbreitet selber, was von ihr zu denken ist. So haben wir auf einer bejahrten Emaille-Tafel am Friedhof Woodlawn gelesen: sie sei unentbehrlich für gebildete Konversation; in der Untergrundbahn: ohne sie seien wir nicht auf der Höhe der Zeit, desgleichen die lockende Tröstung: es sei ein so angenehmes Gefühl, es sei alles drin, selbst wenn man es nicht lese; in Erz und Marmor haben wir gelesen: sie sei das Tagebuch der Welt; heute aber: Einer der nettesten Züge an der New York Times – sie kann Ihnen zugestellt werden; dies mit einer Zeichnung, die sie darstellt beim Zustellen.
    Wen haben wir denn da?
    Eine ältere Person, nicht eben jüngferlich, jedoch keusch. Eine Tante.
    Eine kurze Person. Was zwingt ihr den Kopf nach vorn, die Gicht, oder damit sie besser über ihren Klemmer blicken kann? Jettschwarze Punktaugen, viereckige Gläser. Der Mund ist in beiden Winkeln zu delikatem Halbrund hochgebogen; Leichtfertigkeit, vulgäres Grinsen liegen fern. Beherrschte Freundlichkeit. Im ganzen Gesicht nicht eine Falte.
    Auf dem Kopf trägt sie einen Berg aus dicken Locken, die ihr bis über die Ohren fallen. Die Spuren der Wickelrollen sind deutlich zu erkennen.
    Eine mollige Person, geht man nach den runden Schultern, über die ihr ein Umhang aus schwarzer Wolle mit aufgegangenen Maschen fällt, urteilt man nach dem mehr und mehr bauschenden Kleid, dessen untere Breite mit der oberen eine längliche schmale Glocke herstellt. (Wir hatten sie uns eher hager gedacht.)
    Die Kleidung ist würdig, ein weißes Kleid mit geometrischen Mustern und breiter Schmuckbordüre in der Mitte wie am knöchelhohen Saum, wo aber einzelne Fäden locker heraushängen. (Wir waren sicher, sie gäbe sich adretter.)
    Stramm steht sie da in ihrem gewichtigen Leib, auf ihren akkurat auswärts gestellten Füßchen in den Stiefeletten mit hohem Absatz. Die Gliedmaßen mögen altersmager scheinen, spillrig, bruchanfällig; mit festem Griff hält sie in ihrer linken Hand eine schwere Rolle Papier. Unter der Rechten aber, bei abgespreiztem Mittelfinger, ruht an geschnitzter Krücke ein Stock, auf den sie sich nicht stützen muß, denn sie hat ihn schräg vor sich hin auf den Boden gestellt, fast kokett, anders als wir meinten. So steht sie da.
    So sieht sie aus, von ihr selbst gezeigt.
    Guten Tag, Tante Times!
    8. Juli, 1968 Montag
    Seit einer Woche, heißt es, halten die Arbeiter in Tausenden von Fabriken und Gemeinschaftsgütern der Sowjetunion Kundgebungen ab, mitten in der Ernte, und verdammen, hört man, die »antisozialistischen und antisowjetischen Elemente« in der Č. S. S. R. Die Zeitung Junge Front in Prag bekennt sich verwirrt. Gerade dies, ruft die Wahrheit aus Moskau zurück, stufe die Journalisten der Mladá Fronta unter die »verantwortungslosen« ein. Auch hat der Erste Vorsitzende der tschechoslowakischen Nationalversammlung Briefe bekommen aus Moskau, Polen und Ostdeutschland. Josef Smrkovský hat den Wortlaut für sich behalten, er muß den erst noch besprechen mit dem Präsidium seiner Kommunistischen Partei; immerhin hat er den Empfang quittiert mit der Versicherung, die Č. S. S. R. werde nicht dulden, daß andere Staaten sich einmischten in ihre inneren Angelegenheiten. »Interferenz«. Mehr

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