Jahrmarkt der Eitelkeit
stelle sich vor, welche Gefühle von Begeisterung und Dankbarkeit, von Schmerz und Verzweiflung in fast allen Dörfern und Häusern herrschten, als die Siegesbotschaft aus Flandern kam und man die Verlustlisten der Regimenter durchging und erfuhr, ob der teure Freund und Verwandte davongekommen oder gefallen war. Jeder, der sich die Mühe machen will, die damaligen Zeitungen noch einmal durchzugehen, muß selbst jetzt, nach so langer Zeit, dieses atemlose Gefühl der Erwartung haben. Die Verlustliste wird täglich weitergeführt, man unterbricht mittendrin, wie bei einer Erzählung, deren Fortsetzung in der nächsten Nummer erscheint. Man male sich die Gefühle aus, wenn die Zeitungen frisch aus der Druckerpresse einander folgten; und wenn man in England wegen einer Schlacht, in der nur zwanzigtausend unserer Leute kämpften, so außer sich kommen konnte, so halte man sich vor Augen, in welcher Lage sich ganz Europa vor zwanzig Jahren befand, als die Menschen nicht zu Tausenden, sondern zu Millionen kämpften. Jeder, der einen Feind niederstreckte, verwundete ein anderes, unschuldiges Herz in der Ferne furchtbar.
Die Nachricht, die jene berühmte »Gazette« den Osbornes brachte, versetzte der ganzen Familie und ihrem Oberhaupt einen schrecklichen Schlag. Die Mädchen gaben sich rückhaltlos ihrem Schmerz hin. Den gramgebeugten alten Vater machten das Schicksal und der Kummer noch niedergeschlagener. Er bemühte sich, zu denken, daß der Junge für seinen Ungehorsam gestraft worden sei. Er wagte es nicht, zu gestehen, daß ihn die Strenge des Urteils erschreckte und daß sich sein Fluch zu schnell erfüllt hatte. Zuweilen schauderte er vor Entsetzen, als ob er der Urheber des Verhängnisses sei, das er auf seinen Sohn herabbeschworen hatte. Früher hatten wenigstens noch Möglichkeiten zur Aussöhnung bestanden. Die Frau des Jungen hätte sterben oder dieser selbst zurückkommen und sagen können: »Vater, ich habe gesündigt.« Jetzt aber gab es keine Hoffnung mehr. Er stand auf der anderen Seite des unüberwindlichen Abgrundes und verfolgte seinen Vater mit trüben Augen. Dieser erinnerte sich des gleichen Blickes, als sein Sohn einmal im Fieber gelegen hatte und jedermann dachte, daß der Junge sterben würde. Er lag damals stumm im Bett und starrte düster vor sich hin. Guter Gott, wie der Vater sich damals an den Arzt klammerte und mit welch verzweifelter Angst er ihm überallhin gefolgt war; was für eine Last war ihm vom Herzen gefallen, als der Junge die Krisis überwunden hatte und seinen Vater mit erkennenden Augen ansah! Jetzt aber gab es weder Hilfe noch Heilung, noch eine Aussicht auf Versöhnung; vor allem aber keine demütigen Worte, um die wütende gekränkte Eitelkeit zu besänftigen und das vergiftete zornige Blut wieder in seinen natürlichen Fluß zu bringen. Es läßt sich schwer sagen, welcher Schmerz das Herz des stolzen Vaters am meisten zerriß – daß sein Sohn sich jetzt außer Reichweite seiner Verzeihung befand oder daß ihm die Entschuldigung, die sein Stolz erwartet hatte, entgangen war.
Welche Empfindungen der finstere alte Mann auch hegen mochte – er vertraute sich niemandem an. Niemals erwähnte er des Sohnes Namen gegenüber seinen Töchtern; der älteren gab er den Befehl, alle weiblichen Mitglieder des Hauses in Trauer zu kleiden, und den männlichen Dienstboten befahl er, sich ebenfalls in tiefes Schwarz zu kleiden. Alle Gesellschaften und Vergnügungen wurden natürlich abgesagt. Seinem zukünftigen Schwiegersohn, dessen Hochzeitstag schon festgesetzt worden war, machte er keine Mitteilung. Aber in Mr. Osbornes Miene lag etwas, was Mr. Bullock hinderte, Fragen zu stellen oder irgendwie auf die Heirat zu drängen. Er flüsterte zuweilen mit den Damen darüber im Salon, wohin der Vater nie kam. Er hielt sich ständig in seinem Studierzimmer auf, und das Vorderhaus blieb über die normale Trauerzeit hinaus geschlossen.
Etwa drei Wochen nach dem 18. Juni erschien ein Bekannter von Mr. Osborne, Sir William Dobbin, mit sehr blassem und verstörtem Gesicht in Osbornes Haus am Russell Square und bestand darauf, den Herrn sprechen zu müssen. Man führte ihn in das Zimmer des Alten, und nach einigen Worten, die weder der Sprecher noch der Hausherr verstanden, holte er einen Brief mit großem rotem Siegel aus einem Umschlag hervor. »Mein Sohn, Major Dobbin«, sagte der Alderman etwas zögernd, »hat mir durch einen Offizier vom ...ten Regiment, der heute in der Stadt ankam, einen
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