Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jahrmarkt der Eitelkeit

Jahrmarkt der Eitelkeit

Titel: Jahrmarkt der Eitelkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Makepeace Thackeray
Vom Netzwerk:
hörten mit Verwunderung Mrs. Beckys Weinen und Schluchzen. Auch Mr. Joseph war recht erschrocken und bewegt, als er seine alte Flamme in diesem Zustand sah. Nun erzählte sie ihm ihre Geschichte – eine Geschichte, so nett, einfach und harmlos, daß eins ganz klar wurde: Hätte es je einen weißgekleideten Engel gegeben, der dem Himmel entflohen war, um sich hier auf Erden den teuflischen Ränken und Schurkereien böser Menschen zu unterwerfen, dann säße diese unglückliche lautere Märtyrerin auf dem Bett vor Joseph – auf dem Bett, und fast auf der Schnapsflasche.
    Sie hatten ein sehr langes, freundschaftliches und vertrautes Gespräch, in dessen Verlauf Joseph erfuhr (und zwar auf eine Weise, die ihn nicht im mindesten verletzte oder beleidigte), daß Beckys Herz erst in seiner bezaubernden Gegenwart zu klopfen gelernt hatte, da George Osborne ihr zwar ungerechtfertigterweise den Hof gemacht habe, was Amelias Eifersucht und ihren kleinen Bruch erklärte, daß aber Becky den unglücklichen Offizier nie auch nur im geringsten ermutigt habe, und von dem Tag an, da sie Joseph zum erstenmal erblickt habe, habe sie niemals aufgehört, an ihn zu denken, obwohl sie natürlich zuallererst ihre Pflichten als verheiratete Frau erfüllen mußte – Pflichten, denen sie stets nachgegangen sei und bis zum Tode nachgehen werde, beziehungsweise bis das sprichwörtlich schlechte Klima, in dem Oberst Crawley lebte, sie von einem Joch befreien würde, das seine Grausamkeit ihr verhaßt gemacht habe.
    Joseph verließ sie in der Überzeugung, daß sie die tugendhafteste aller bezaubernden Frauen sei, und wälzte eine Menge wohlwollender Pläne für ihr Glück im Kopf. Ihre Verfolgungen mußten aufhören, sie sollte in die Gesellschaft zurückkehren, deren Zierde sie war; er wollte sehen, was sich tun ließe. Sie mußte dieses Haus verlassen und in eine ruhige Wohnung ziehen. Amelia sollte sie besuchen und sich ihrer annehmen. Er wollte die Sache in Ordnung bringen und sich mit dem Major beraten. Sie weinte beim Abschied Tränen inniger Dankbarkeit und preßte seine Hand, als sich der galante dicke Herr bückte, um ihre zu küssen.
    Becky entließ Joseph aus ihrer Dachkammer mit einer Grazie, als ob sie die Herrin eines Palastes wäre. Als der gewichtige Gentleman auf der Treppe verschwunden war, kamen Max und Fritz mit der Pfeife aus ihrem Loch hervor, und Becky belustigte sich damit, Joseph nachzuahmen. Dabei kaute sie ihr kaltes Fleisch und Brot und nahm ab und zu einen Zug aus ihrer geliebten Schnapsflasche.
    Joseph begab sich feierlich in Dobbins Wohnung hinüber und machte ihn mit der rührenden Geschichte bekannt, die er soeben gehört hatte, ohne jedoch die Spielgeschichte vom Abend zuvor zu erwähnen. Die beiden Herren steckten die Köpfe zusammen und berieten darüber, wie man Mrs. Becky am besten nützlich sein könne, während sie ihr unterbrochenes Gabelfrühstück beendete.
    Wie war sie in dieses Städtchen gekommen? Wie kam es, daß sie freundlos und allein umherwanderte? Die kleinen Schulknaben lernen in ihrem ersten Lateinbuch, daß der Pfad zum Avernus 2 hinab leicht gangbar ist. Wir wollen den Abschnitt in der Geschichte, der ihre Abwärtsbewegung beinhaltet, überspringen. Sie war jetzt nicht schlechter als in den Tagen ihres Wohllebens – nur das Glück hatte sie verlassen.
    Mrs. Amelia nun war eine Frau von so weichem, törichtem Gemüt, daß ihr Herz sofort dahinschmolz, wenn sie von jemandem hörte, der unglücklich war. Da sie nie etwas Sündhaftes gedacht oder getan hatte, verabscheute sie das Laster nicht so, wie es eingeweihtere Moralisten tun. Jeden, der in ihre Nähe kam, verwöhnte sie mit freundlichen Worten und Komplimenten; ihre Dienstboten bat sie um Verzeihung, sie mit ihrem Klingeln bemüht zu haben; bei einem Verkäufer, der ihr ein Stück Seide zeigte, entschuldigte sie sich, und vor einem Straßenfeger würde sie einen Knicks machen und ihn wegen des vornehmen Aussehens seiner Kreuzung loben – ja all dieser Torheiten war sie fähig. So mußte allein schon die Vorstellung, daß es einer alten Bekannten schlecht gehe, ihr Herz besänftigen, und sie wollte auch nie etwas davon hören, daß jemand sein Unglück verdient habe. Eine Welt unter einer Gesetzgebung wie der ihren wäre nicht gerade ein geordneter Aufenthaltsort. Es gibt aber nicht viele Frauen, wenigstens unter den herrschenden, von ihrer Art. Diese Dame würde wahrscheinlich Gefängnisse, Strafen, Handschellen, Auspeitschen,

Weitere Kostenlose Bücher