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Jahrmarkt der Eitelkeit

Jahrmarkt der Eitelkeit

Titel: Jahrmarkt der Eitelkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Makepeace Thackeray
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Ehrenwort. Noch niemand hat eine grausame Verfolgung engelhafter ertragen. Ihre Familie ist sehr schlecht gegen sie gewesen.«
    »Armes Geschöpf!« sagte Amelia.
    »Und wenn sie keine Freundin findet, dann wird sie wohl sterben, meint sie«, fuhr Joseph mit leiser, zitternder Stimme fort. »Gott behüte mich, weißt du, daß sie schon versucht hat, Selbstmord zu begehen? Sie hat Opium bei sich, ich habe die Flasche in ihrem Zimmer gesehen – so ein erbärmliches Zimmerchen in einem Gasthaus dritten Ranges, im ›Elefanten‹, ganz oben unterm Dach. Ich bin dort gewesen.«
    Dies schien Emmy nicht besonders zu berühren. Sie lächelte sogar ein wenig; vielleicht stellte sie sich Joseph vor, wie er die Treppen hinaufkeuchte.
    »Sie ist außer sich vor Kummer«, fuhr er fort. »Es ist entsetzlich anzuhören, was diese Frau durchgemacht hat. Sie hat einen kleinen Knaben im gleichen Alter wie Georgy.«
    »Ja, ja, ich glaube, ich kann mich entsinnen«, bemerkte Emmy, »na und?«
    »Das schönste Kind, das man je gesehen hat«, sagte Joseph, der wie alle Dicken leicht zu rühren und von Beckys Geschichte sehr ergriffen war. »Ein wahrer Engel, der seine Mutter anbetete. Die Schurken haben ihr das schreiende Kind aus den Armen gerissen und ihm nicht erlaubt, sie jemals wiederzusehen.«
    »Lieber Joseph«, rief Emmy und sprang plötzlich auf. »Wir wollen unverzüglich zu ihr.« Sie lief in ihr Schlafzimmer, setzte hastig den Hut auf, kam mit dem Schal über dem Arm wieder heraus und befahl Dobbin, ihr zu folgen.
    Er kam und legte ihr den Schal über die Schultern. Es war ein weißer Kaschmirschal, den der Major aus Indien für sie hatte kommen lassen. Er sah ein, daß ihm nichts übrigblieb, als zu gehorchen. Sie schob ihre Hand in seinen Arm, und sie gingen los.
    »Es ist Nummer 92, vier Treppen hoch«, sagte Joseph, der offenbar keine große Lust hatte, noch einmal hinaufzusteigen. Er stellte sich jedoch ans Fenster seines Wohnzimmers, wo er den Platz überblicken konnte, an dem der »Elefant« liegt, und sah die beiden über den Markt gehen.
    Auch Becky sah sie von ihrer Dachkammer aus. Sie saß darin mit den beiden Studenten, und sie plauderten und lachten und machten sich lustig über Beckys Großpapa, dessen Ankunft und Abmarsch sie beobachtet hatten. Sie hatte gerade noch genug Zeit, sie wegzuschicken und ihr Zimmerchen in Ordnung zu bringen, ehe der Wirt vom »Elefanten«, der Mrs. Osbornes Beliebtheit am durchlauchtigsten Hof kannte und sie entsprechend achtungsvoll behandelte, ihnen voran die Treppe hinauf bis zum Dachgeschoß ging und der Lady und dem Herrn Major beim Aufstieg gut zuredete.
    »Gnädige Frau, gnädige Frau!« rief der Wirt und klopfte an Beckys Tür.
    Er hatte sie tags zuvor bloß »Frau« genannt und war keineswegs höflich gegen sie gewesen.
    »Wer ist da?« sagte Becky und steckte den Kopf heraus. Dann stieß sie einen schwachen Schrei aus. Vor ihr standen die zitternde Emmy und Dobbin, der lange Major, mit seinem Stock.
    Er blieb stehen und beobachtete das Schauspiel mit großem Interesse. Emmy jedoch sprang mit offenen Armen auf Rebekka zu, vergab ihr in einem Augenblick und umarmte und küßte sie herzlich. Ach, du arme Unglückliche. Wann hast du je so reine Küsse auf deinen Lippen gespürt?

66. Kapitel
Amantium irae 1
    Die Offenheit und die Güte Amelias mußten selbst eine so verstockte kleine Sünderin wie Becky rühren. Sie erwiderte Emmys Liebkosungen und freundliche Worte mit so etwas wie Dankbarkeit und einem Gefühl, das zwar nicht dauernd, aber doch einen Augenblick echt zu nennen war. Sie hatte mit dem »schreienden Kind, das man ihr aus den Armen gerissen hatte«, eine glückliche Idee gehabt. Durch dieses herzzerreißende Unglück hatte Becky die Freundin wiedergewonnen, und ganz sicher war das auch eins der ersten Themen, über die unsere arme einfältige kleine Emmy mit ihrer wiedergefundenen Freundin sprach.
    »Man hat dir also dein geliebtes Kind entrissen?« rief unser kleiner Einfaltspinsel aus. »O Rebekka, meine arme, liebe, gequälte Freundin. Ich weiß, was es heißt, einen Knaben zu verlieren, und ich fühle mit denen, die einen verloren haben. So der Himmel will, wird dir dein Sohn zurückgegeben werden, wie eine allzu gütige Vorsehung mir auch meinen zurückgegeben hat.«
    »Das Kind, mein Kind? Ach ja, meine Qualen waren entsetzlich!« gestand Becky, vielleicht nicht ohne einen kleinen Gewissensbiß. Es beunruhigte sie, diesem schlichten Vertrauen sofort wieder

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