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Jahrmarkt der Eitelkeit

Jahrmarkt der Eitelkeit

Titel: Jahrmarkt der Eitelkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Makepeace Thackeray
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mit Lügen begegnen zu müssen. Das ist eben das Unglück, wenn man erst einmal mit derartigen Unwahrheiten anfängt. Wenn eine Lüge gleichermaßen fällig wird, so muß man eine andere aussprechen, um die alte zu honorieren. Dadurch erhöht sich die Summe der zirkulierenden Lügen unvermeidlich, und die Gefahr der Entdeckung wächst täglich.
    »Meine Qualen«, fuhr Becky fort, »waren schrecklich« (hoffentlich setzt sie sich nicht auf die Flasche), »als sie ihn mir entrissen; ich dachte, ich müsse sterben. Glücklicherweise bekam ich aber eine Gehirnhautentzündung, und die Ärzte gaben mich schon auf. Aber – aber ich genas, und – und hier bin ich, arm und verlassen.«
    »Wie alt ist er?« fragte Emmy.
    »Elf«, sagte Becky.
    »Elf?« rief die andere. »Aber er ist doch im selben Jahr geboren wie Georgy, und der ist ...«
    »Ich weiß, ich weiß«, erwiderte Becky, die das Alter des kleinen Rawdon tatsächlich ganz vergessen hatte. »Durch den Kummer habe ich so manches vergessen, liebste Amelia. Ich bin sehr verändert, zuweilen halb wild. Er war elf, als sie ihn mir wegnahmen. Gott segne sein liebes Gesicht, ich habe es seitdem nicht wieder gesehen.«
    »War er blond oder dunkel?« fragte die alberne kleine Amelia weiter. »Zeig mir doch sein Haar!«
    Becky mußte über diese Einfalt fast lachen. »Heute nicht, Liebste – ein andermal, wenn meine Koffer von Leipzig ankommen, von wo ich hierhergereist bin. Auch eine kleine Zeichnung von ihm, die ich in glücklichen Tagen angefertigt habe.«
    »Arme Becky, arme Becky!« sagte Amelia. »Wie dankbar, wie dankbar sollte ich sein.« (Ich bezweifle allerdings, daß die Dankbarkeit, die uns die Frauen in frühester Jugend einschärfen, nämlich dankbar zu sein, daß es uns besser geht als unseren Nächsten, ein sehr vernünftiges und religiöses Gefühl ist.)
    Hierauf verfiel Emmy wie üblich in den Gedanken, daß ihr Sohn der schönste, beste und klügste Knabe auf der ganzen Welt sei.
    »Du wirst meinen Georgy sehen«, war der einzige Trost für Rebekka, der Emmy einfiel. Wenn irgend etwas ihr helfen konnte, dann das!
    Die beiden Frauen unterhielten sich eine Stunde oder noch länger miteinander, und das gab Becky Gelegenheit, ihrer wiedergewonnenen Freundin eine vollständige Fassung ihrer Geschichte zu geben. Sie zeigte, daß ihre Heirat mit Rawdon Crawley von der Familie stets feindselig betrachtet worden sei und daß ihre Schwägerin – eine gerissene Frau – die Gefühle ihres Mannes gegen sie vergiftet habe. Außerdem habe er schlechte Bekanntschaften geschlossen, die seine Liebe zu ihr erkalten ließen. Sie habe Armut, Vernachlässigung, Kälte, alles von dem Wesen ertragen, das sie am meisten liebte, und alles nur um ihres Kindes willen. Schließlich sei sie durch die schändlichste Schmach dazu getrieben worden, die Trennung von ihrem Mann zu fordern. Der Elende sei darauf nicht zurückgeschreckt, von ihr zu fordern, ihren guten Ruf zu opfern, damit er durch Vermittlung eines sehr hochgestellten und mächtigen, aber charakterlosen Mannes – des Marquis von Steyne – eine gute Stellung erlangen könne. Das grausame Ungeheuer!
    Diesen Teil ihrer ereignisreichen Geschichte schilderte Becky mit sehr großem weiblichem Taktgefühl und der Miene entrüsteter Tugend. Durch diese Beleidigung sei sie gezwungen gewesen, das Haus ihres Mannes zu fliehen, und der Feigling hatte seine Rache weiter verfolgt, indem er ihr das Kind nahm. Und so sei sie ein armer, schutzloser, einsamer und unglücklicher Wanderer geworden, erklärte sie.
    Emmy nahm diese lange Geschichte auf, wie es bei ihrem Charakter zu erwarten war. Sie bebte vor Entrüstung über das Benehmen des erbärmlichen Rawdon und des lasterhaften Steyne; ihre Augen setzten das Ausrufezeichen hinter jeden Satz, in dem Rebekka ihre Verfolgung durch die aristokratischen Verwandten und den Abfall ihres Mannes beschrieb. (Becky beschimpfte ihn nicht, sie sprach von ihm mehr traurig als zornig. Sie hatte ihn nur zu zärtlich geliebt, und war er nicht der Vater ihres Sohnes?) Während Becky die Trennungsszene von dem Kind zitierte, zog sich Emmy ganz hinter ihr Taschentuch zurück, so daß die vollendete kleine Tragödienspielerin von der Wirkung ihrer Vorstellung auf das Publikum bezaubert gewesen sein muß.
    Während die Damen ihr Gespräch fortsetzten, stieg Amelias ständige Begleitung, der Major, in das Erdgeschoß des Hauses hinab und begab sich in das große Gastzimmer. Er hatte die Unterredung nicht

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