Jahrmarkt der Eitelkeit
geführt wurde, nie gelernt hatte.
»Njumero kattervang duse, si vous plaît« 1 , sagte Joseph würdevoll, als er wieder sprechen konnte.
»Gatterfang tus!« rief der Student aufspringend. Dann eilte er in sein Zimmer, verschloß die Tür, und Joseph hörte, wie er mit seinem Kameraden auf dem Bett lachte.
Der bengalische Gentleman stand noch, mißvergnügt von dieser Szene, da, als sich die Tür von Nummer 92 von selbst öffnete und Beckys Köpfchen kokett und mutwillig herauslugte.
Sie strahlte Joseph an.
»Sie sind es«, sagte sie und trat heraus. »Wie habe ich auf Sie gewartet! Halt! Noch nicht. In einer Minute können Sie hereinkommen.« In der Zwischenzeit steckte sie ein Schminktöpfchen, eine Schnapsflasche und einen Teller mit Fleischresten ins Bett, strich sich glättend übers Haar und ließ endlich den Besucher ein.
Als Morgenrock trug sie einen ausgeblaßten und fleckigen rosa Domino, der verschiedentlich Spuren von Pomade zeigte, aber ihre Arme leuchteten aus den weiten Ärmeln des Gewandes weiß und schön. Sie hatte es um die schmale Taille gegürtet, damit die hübsche Figur der Trägerin zur Geltung gebracht würde. Sie führte Joseph an der Hand in ihre Dachkammer hinein.
»Treten Sie ein«, sagte sie. »Kommen Sie, und erzählen Sie mir etwas. Nehmen Sie Platz in dem Stuhl dort.« Damit preßte sie die Hand des Zivilisten und drückte ihn lachend hinein. Sie selbst ließ sich auf dem Bett nieder – ganz gewiß nicht auf Flasche und Teller, auf die sich Joseph sicher gesetzt hätte, hätte er diesen Platz gewählt. So saß sie nun und unterhielt sich mit ihrem alten Bewunderer.
»Wie wenig die Jahre Sie verändert haben«, sagte sie mit einem Blick zärtlichen Interesses. »Ich hätte Sie überall erkannt. Welch ein Trost, unter Fremden wieder einmal das offene, ehrliche Gesicht eines alten Freundes zu sehen.«
Das offene, ehrliche Gesicht trug allerdings in diesem Augenblick keineswegs einen Ausdruck von Offenheit und Ehrlichkeit, es war im Gegenteil unruhig und verwirrt. Joseph sah sich in dem seltsamen kleinen Zimmer um, in dem er seine alte Flamme fand. Eins ihrer Kleider hing über dem Bett, ein anderes an einem Haken an der Tür, ihr Hut verdeckte den Spiegel halb, davor lag ein hübsches Paar bronzebrauner Stiefelchen; auf dem Nachttisch neben dem Bett befand sich ein französischer Roman und eine Kerze, aber nicht aus Wachs. Becky hatte daran gedacht, auch das ins Bett zu stecken, aber sie hatte nur die kleine Papiernachthaube weggepackt, mit der sie beim Schlafengehen das Licht gelöscht hatte.
»Ich hätte Sie überall erkannt«, fuhr sie fort. »Eine Frau vergißt gewisse Dinge nie, und Sie waren der erste Mann, den ich je – je sah.«
»Wirklich?« sagte Joseph. »Gott behüte mich, nein so was!«
»Als ich mit Ihrer Schwester von Chiswick kam, war ich fast noch ein Kind«, meinte Becky. »Wie geht es dem lieben Mädchen? Oh, ihr Mann war ein arger Bösewicht, und die Ärmste war natürlich auf mich eifersüchtig; hach, als ob ich mir etwas aus ihm gemacht hätte, da es doch jemanden gab – aber nein – wir wollen nicht von alten Zeiten sprechen.« Und sie fuhr sich mit dem zerrissenen Spitzentüchelchen über die Augen.
»Ist das nicht ein seltsamer Ort«, fuhr sie fort, »eine Frau wiederzusehen, die in einer ganz anderen Welt gelebt hat? Ich habe sehr viel Unrecht und Kummer erdulden müssen, Joseph Sedley, ich habe so entsetzlich leiden müssen, daß ich zuweilen fast wahnsinnig bin. Nirgends kann ich Ruhe finden, stets wandere ich rastlos und unglücklich umher. Alle meine Freunde sind mir untreu geworden – alle. Es gibt keinen ehrlichen Menschen mehr auf der Welt. Ich war die treueste Ehefrau, die je gelebt hat, obwohl ich meinen Mann nur aus gekränkter Eitelkeit heiratete, weil ein anderer – doch lassen wir das. Ich war ihm treu, doch er trat mich mit Füßen und verließ mich. Ich war die zärtlichste Mutter. Ich hatte nur ein Kind, eine Herzenswonne, eine Hoffnung, eine Freude, das ich mit wahrer Mutterliebe ans Herz drückte, das mein Leben war, mein Gebet, meine Seligkeit, und sie – sie entrissen es mir – entrissen es mir.« Bei diesen Worten preßte sie die Hand mit leidenschaftlicher Verzweiflung ans Herz und vergrub ihr Gesicht einen Augenblick im Bett.
Die Schnapsflasche unter der Bettdecke klirrte gegen den Teller mit dem kalten Fleisch. Beide waren zweifellos gerührt von diesem traurigen Schauspiel. Max und Fritz lauschten an der Tür und
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