Jahrmarkt der Unsterblichkeit
gehoben hätte. Ben-Isaak las ihr vor. Als er innehielt, um umzublättern, sah Sears, wie sie ihn anschaute, ohne daß er es bemerkte, und wie sie insgeheim vor sich hinlächelte.
Bis zu diesem Augenblick war Hannahs Gesicht stets voller Widerspruch gewesen, ein Antlitz, das aus einem belebten und einem eingefrorenen Teil bestand. Ihre Intelligenz, die List, die Lebensgier, ja, auch der Humor hatten sich auf die obere Hälfte des Gesichts um die feinknochige Nase und die gescheiten Augen mit den Weisheitsfalten in den Winkeln konzentriert.
Ihre verlorene Jugend jedoch und die vergeudete Vergangenheit waren in dem gefrorenen Gebiet um den harten, unerbittlichen Mund und das Kinn begraben.
Nun waren der obere und untere Teil ihres Gesichts harmonisch geworden; die Wärme Palästinas hatte die eisigen Tundren ihrer Natur aufgetaut. Die schmalen Lippen, steif von dem Wind, der beständig aus dem kalten Herzen wehte, wurden von einem andern Luftstrom erwärmt und waren endlich in der Lage, ein Lächeln zustande zu bringen.
Noch etwas anderes bemerkte Sears mit tiefer Erschütterung. Als er auf ihre Hände schaute, sah er, daß sie nicht mehr zu festen, besitz-gierigen Fäusten geballt waren; sie zeigten nicht mehr jenen krampfhaften Griff, der für ihre Einstellung zu allem, was sie besaß, und zum Leben selbst symbolisch war. Jetzt lagen sie ganz natürlich auf der blauen Decke, offen und entspannt, schön, wohlgeformt und von elfenbeinernem Weiß.
Auch die Gesichtshaut schien einen andern Ton angenommen zu haben, und die ganze Lebenskraft konzentrierte sich nur noch auf die Augen. Es war sehr wenig von der Hannah Bascombe geblieben, die sie alle gekannt hatten. Sie war eine alte, uralte Frau, die sehr klein, sehr müde in der Sonne Galiläas lag.
Am sechsten Tag ihres Aufenthalts in Ain Tabigha kam Dr. Levi zu Hannah, um mit ihr über eine Angelegenheit zu sprechen, die ihn lebhaft beschäftigte. Es handelte sich darum, daß die Zeit gekommen war, da er nach Metulla und zu seiner Arbeit zurückkehren mußte. Clary und Sears waren da, doch Ben-Isaak war nach Norden gefahren, um sich ein Stück Land anzusehen, das er kaufen wollte, und wurde nicht vor dem nächsten Tag zurückerwartet.
«Es ist eine bescheidene Sache, Gemüse zu ziehen», sagte Dr. Levi, «aber sie brauchen mich dazu.»
Sears bemerkte, wie rasch Hannah jetzt die Tränen in die Augen traten, obwohl sie sie immer noch schneller zurückdrängte.
«Ich bin sehr selbstsüchtig gewesen, nicht wahr?» erwiderte sie. «Ja, Sie haben recht. Sie müssen gehen. Ich habe für Sie alle die Uhr schon viel zu lange angehalten — und für mich selber auch. Man wird mich zu Haus erwarten.»
Dr. Levi setzte sich neben sie und beugte sich vor, einen Ausdruck der Zuneigung und des Eifers auf dem Gesicht, der fast jungenhaft war, als er sagte:
«Können Sie nicht hierbleiben? Ich weiß, daß Ben-Isaak, der Sie wie eine Mutter liebt, versucht hat, Sie zum Bleiben zu überreden. Lassen Sie mich meine Bitte mit der seinen vereinen. Wir brauchen Sie. Hier ist ein Platz, und Sie werden teilhaben an dem, was jeder Menschenseele geschieht, die zu uns kommt. Und vielleicht brauchen Sie uns auch noch. Ich bitte Sie zu bleiben.»
Sears überlegte, welch seltsames Ende es für die Kette der Ereignisse sein würde, die er vor scheinbar unendlich langer Zeit ausgelöst hatte, wenn die reichste Frau der Welt alles aufgäbe, um in die Atmosphäre mit den Erregungen der Pionierzeit ihres Vaters zurückzukehren.
Nach einer Weile des Schweigens fragte Hannah: «Wann wollen Sie fahren?»
Dr. Levi erwiderte: «Morgen, wenn Ben-Isaak zurück ist.»
Hannah nickte.
«Ich will Ihnen heute abend oder morgen früh sagen, wozu ich mich entschlossen habe. Sie sind so gütig zu mir gewesen, und nun möchte ich gern allein sein, um darüber nachzudenken.»
Die drei gingen davon und ließen sie im Halbschlaf träumend am Seeufer zurück.
34
Wenn aber ein Blinder den andern leitet, so fallen sie beide in die Grube.
Matthäus 15,14
An diesem Nachmittag zog sich Hannah zeitig zurück. Sears wanderte zum Wohnwagen hinüber, weil er Clary suchte. Beiläufig sagte er zu ihr: «Wie wäre es mit einer kleinen Fahrt auf dem See, um uns abzukühlen? Du siehst erhitzt und müde aus. Ich habe ein Boot aufgetrieben.»
Sie waren seit jenem Abend in der Höhle nicht mehr allein zusammen gewesen und hatten auch nicht miteinander gesprochen. Beide hatten jedoch gewußt, daß die Zeit kommen würde,
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